Wie sich die Zeiten ändern...

  • Ich schau gerade aus dem Fenster, da laufen junge Leute in Trachtenkleidung vorbei auf dem Weg zum Cannstatter Wasen oder Oktoberfest, oder was auch immer. Die Mädchen mit Dirndl, und die Jungs mit Lederhose. Der Witz ist ja, hier in Stuttgart ist das streng genommen überhaupt keine traditionelle Tracht, höchstens halt in Bayern. Aber es hat sich in den letzten Jahren wohl so eingebürgert unter den Komasäufern, dass man das eben so macht, wenn man aufs Volksfest geht.

    Während meiner Jugendzeit wäre es noch undenkbar gewesen, sich in einem solchen Aufzug vor seinen Kumpels zu zeigen... da hätte man sich gefühlt wie ein totaler Vollidiot.

    Erst einige Jahre später ist es mir dann aufgefallen, dass junge Leute sich so kleiden, wenn sie ins Bierzelt gehen. Keine Ahnung, woran das plötzlich lag, dass das so umgeschwenkt ist von "Iiih, Volksmusik, Heimatverbundenheit, Spießer, Oma und Opa" zu "Cool, Volksmusik, Saufen, Geselligkeit". Weiß jemand, womit das los ging? DJ Ötzi?

    Ich will es jetzt gar nicht werten, darf ja gern jeder anziehen, was er möchte. Es ist mir nur eben aufgefallen, als ein Beispiel von vielen dafür, wie sich innerhalb weniger Jahre oder Jahrzehnte die Dinge verändern... wie etwas, was einmal selbstverständlich war, plötzlich eine Außenseitermeinung ist, oder umgekehrt. Wie der Zeitgeist das Denken und das Erscheinungsbild von Menschen beeinflusst.


    Im Grunde fallen mir dazu noch unzählige Beispiele ein. Dass früher Männer einen Hut trugen, zum Beispiel. Selbst zu meiner Zeit gab es noch Opas mit Hut. Und wenn einer von denen im Auto vor dir fuhr, und du hast einen Hut auf der Ablage gesehen, dann wusstest du sofort, entweder du überholst den so schnell wie möglich, oder das wird eine verdammt lange Fahrt.

    Heute sieht man diesen Look bei alten Männern kaum noch. Aber die Vorliebe für beige, graue und kackbraune Klamotten und hässlich geschnittene, völlig unbequem wirkende Hosen scheint immer noch geblieben zu sein. Ich frage mich, ob Rentner irgendwann mal cool und lässig aussehen werden, wenn erstmal die HipHop-Generation in dieses Alter kommt.


    Stichwort HipHop-Generation: Zu meiner Zeit hatten Schüler hässliche Klamotten, denen man förmlich angesehen hat, dass ihnen die Farbzusammenstellung völlig egal war und das Zeug vielleicht sogar ihre Mutti gekauft hat. Als Markenklamotten gab es höchstens Sportartikel von Adidas oder Nike, oder T-Shirts von irgendeiner Band. Man muss sich nur mal alte Klassenfotos aus den 80er oder 90er-Jahren anschauen, da denkt man heute teilweise, wenn man diese fast schon auffällig normalen Klamotten anschaut, das sind die Austauschschüler aus Weißrussland gewesen.

    Ein Jahrzehnt später liefen alle rum wie kleine HipHop-Stars mit ihren teuren Markenklamotten. (Inzwischen scheint mir das aber wieder etwas rückläufig zu sein.)

    Auch die Sprache hat sich geändert durch den Einfluss von Hiphop und anderen Dingen. Selbst viele deutsche Kinder und Jugendliche betonen die Worte ganz seltsam, wie es ursprünglich nur irgendwelche Gangsta-Rapper mit Migrationshintergrund taten, die es halt nicht besser wussten. Ich könnte das gar nicht nachmachen, das ist schon irgendwie ein eigener Dialekt... ich meine gar nicht mal nur die Wörter, die sie verwenden, sondern auch die ganze Sprachmelodie etc.

    Den eigentlichen Dialekt ihrer Region sprechen hingegen nicht mehr so viele junge Leute wie vielleicht noch vor dreißig Jahren, nur noch auf dem Land ist das noch immer sehr verbreitet.


    Oder anderes Beispiel: Tattoos. Zu meiner Kinderzeit war das noch etwas, was den Zuhältern und Punks und den ganz schrägen Vögeln vorbehalten war. Wenn man im Fernseh-Krimi einen mit Tattoo sah, war das in der Regel der Böse oder ein Junkie.

    Dann kam so gerade während meiner Jugend das Arschgeweih auf, und jeder Normalo hatte plötzlich irgendwelche Tribaltattoos. Anfangs fiel man damit noch auf. Inzwischen ist es eher so, dass es auffällt, wenn irgendein Profi-Fußballer noch keinen komplett zutätowierten Arm hat.

    Es ist nicht so sehr, dass ich es komplett ablehnen würde... ist halt nicht mein Stil. Aber ich verbinde damit immer noch etwas, was Yakuzas oder krassen Rockern oder erfahrenen Seemännern vorbehalten sein sollte. Wenn jeder Normalo sich einen Totenschädel auf die Wade tätowieren lässt und daneben den Namen seiner Freundin oder von seinem Hund, finde ich es halt lächerlich. Aber ja... die Zeiten ändern sich. ;)


    Hab ihr auch solche Erfahrungen gemacht (vor allem natürlich die etwas Älteren hier), dass ihr irgendwelche Sachen noch als ganz selbstverständlich aus eurer Kindheit oder Jugend im Kopf habt, und irgendwie ist inzwischen alles anders?

  • Zitat

    Ein Jahrzehnt später liefen alle rum wie kleine HipHop-Stars mit ihren teuren Markenklamotten. (Inzwischen scheint mir das aber wieder etwas rückläufig zu sein.)

    Stimmt der Trend ist glücklicherweise rum, außer einigen die darauf hängen geblieben sind läuft heute keiner mehr Baggy Hosen durch die Gegend. Ich würde aber sagen in gewisser Hinsicht ist es sogar noch schlimmer geworden. Das Markenbewusstsein ist auf Designermode umgestiegen. Gucci, Prada, Balenciaga, Fendi und solche Sachen sind seit ein paar Jahren total angesagt bei jungen Leuten und auch in der Rap-Szene dreht sich so manches Lied um die Glorifizierung dieser Marken. Zu meiner Hauptschulzeit hätte man Leute die in solche Dinge gekleidet sind noch als Tunte beschimpft und verprügelt und jetzt laufen die modernen Gangstertypen plötzlich mit diesem Zeug rum. Keine Ahnung woher die alle das Geld für solche teuren Produkte nehmen, aber vermutlich ist das meiste eh gefälscht wobei das ja dann wieder den Status schmählern dürfte...

    ''Everyone around me, they feel connected to something. Connected to something, I'm not.''
    Motoko Kusanagi

  • Drogen sind scheinbar viel verbreiteter, was auch mit der Party-Szene zusammenhängt, die auch eine andere ist als in meiner Jugend. Ich sage das wertfrei, da wir auch ordentlich gebechert haben.

    Durch die sozialen Medien gibt es wohl dieses Gefühl, 'weit weg' von allem zu sein, nicht mehr wirklich. Ich kann mir denken, dass auch gerade dieses Gefühl des 'behütet Aufwachsens' nicht mehr da ist.

    Insgesamt ist alles diverser geworden, was an sich natürlich gut ist, wenn ich bedenke, wie selbstverständlich homophob, sexistisch und verkappt rassistisch wir damals waren.

  • Leider hat sich die "Schwarze Szene" auch ziemlich geändert.

    Wenn man früher irgendwo nen Grufti gesehen hat, wusste man, dass das wahrscheinlich ein Mensch ist, mit dem es sich lohnt, sich zu unterhalten, weil da noch Substanz hinter ist und man ein ähnliches Lebensgefühl teilt. Heute ist es eher konsumorientiert und der Mainstream hält mehr und mehr Einzug. Wenn man jetzt Leute in schwarzen Klamotten sieht, kann es einfach nur aus Modegründen sein.

    Beim Punk ist es ja genauso.

    Echt selten, dass man Menschen trifft, die wirklich authentisch sind.


    Wahrscheinlich ist das der Zeitgeist und alles ist immer im Wandel.

    Vielleicht bedeutet das Festhalten an alten Zeiten auch, dass man schon ein bisschen alt geworden ist und vielleicht genau das tut, was man früher den älteren Generationen vorgeworfen hat.


    Vor einigen Jahren hab ich mich darüber aufgeregt, wie mainstreammäßig die heutige Punkgeneration eigentlich ist und dass mit ihnen überhaupt nichts mehr los ist. Sie hatten sich immer in der Innenstadt getroffen.

    Heute sitzen sie dort nicht mehr, was irgendwie noch komischer ist und mich erkennen lässt, dass es immer noch schlimmer geht.

  • Ich habe erst vor kurzem eine sechsköpfige Gruppe von Jugendlichen gesehen welche im Grufti-Look unterwegs waren. Mein Eindruck war aber auch eher dass das nur aus modischen Gründen gemacht wurde. Die hatten auch alle die üblichen infantilen TikTok Verhaltensweisen gezeigt.

    Bin ich übrigens der Einzige dem Auffällt wie extrem Respektlos die aktuelle Jugend geworden ist? Ich meine Jugendliche waren ja noch nie dafür bekannt sehr Respektvoll zu sein, jedenfalls nicht seit dem ich selbst Jugendlicher war. Aber es ist jetzt echt auf einem Level angelangt welches ich ziemlich extrem finde.

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    Motoko Kusanagi

  • Das könnte vielleicht daran liegen, dass die Zeiten auch allgemein bescheuerter geworden sind (oberflächlicher, status- und profitorientiert) und vielleicht wird es so kompensiert oder halt das im Netz Gesehene nachgeahmt, um Aufmerksamkeit zu bekommen. Allgemein wird wahrscheinlich viel gemacht, um Aufmerksamkeit zu bekommen.

  • Leider hat sich die "Schwarze Szene" auch ziemlich geändert.

    Wenn man früher irgendwo nen Grufti gesehen hat, wusste man, dass das wahrscheinlich ein Mensch ist, mit dem es sich lohnt, sich zu unterhalten, weil da noch Substanz hinter ist und man ein ähnliches Lebensgefühl teilt.

    Ach... wenn sie in Scharen auftreten, waren Gothics doch schon immer eine Lachnummer. Auch schon in den 90ern. :D

  • Der Held der Steine hat sich vor ein paar Tagen auch in einem Video Gedanken dazu gemacht, wie sich die Zeit geändert hat seit seiner Jugend. (ist ja auch so ungefähr meine Generation)


    Ich kann dem meisten davon eigentlich nur zustimmen.

    Man hat sich damals (notgedrungen) mehr Zeit genommen für die Dinge. Weil man einfach auch nicht diese Auswahl hatte. Heute klickt man alles gelangweilt weg, was einen nicht sofort mitreißt.

    Und dieser ständige Überfluss, die allgegenwärtige Verfügbarkeit von allem, entwertet die Sachen auch ein wenig.

    Ich finde es zwar natürlich ziemlich cool, dass man heute alle Spiele der letzten 30 Jahre auf ein Gerät packen kann.

    Aber so richtig cool finde ich es erst dadurch, weil ich noch eine Zeit erlebt habe, als man sich stundenlang mit einem einzigen Spiel beschäftigt hat, das sich alle paar Levels wiederholt hat. Hätte ich von Anfang an alles schon gehabt, hätte ich die Wunder der Entwicklung gar nicht mitbekommen... wie aus 8 Bit irgendwann 16 Bit wurden, und dann 32, und dann die CD-Spiele kamen, etc.

    Oder genauso in der Musik. Ein junger Mensch, der heutzutage aufwächst, wächst in einer Welt heran, in der es bereits alles an Musikgenres gibt, was man sich denken kann. Der Mainstream hört zwar nur seinen Einheitsbrei, aber auch alles andere ist halt irgendwie schon da, man müsste es eigentlich nur entdecken (die Mühe macht man sich aber erst gar nicht, weil einem der Bezug dazu fehlt)

    Als ich jung war, kam die Neue deutsche Welle, ein Sound, den man vorher nicht kannte. Dann kam Rap. Dann Techno.

    Es gab alle paar Jahre etwas komplett Neues, und man war mittendrin in dieser Entwicklung.

    Und heute... höre ich irgendwas von 2023 und es klingt nicht viel anders als 2013.


    Jetzt weiß ich gar nicht mehr, was ich damit eigentlich sagen wollte.

    Ach so, ja... dass ich dem Held der Steine da jedenfalls zustimme und froh bin, diese popkulturelle Entwicklung der letzten Jahrzehnte so mitbekommen zu haben.

    Und dass einem dieser Blickwinkel, diese Erfahrung, die man hat, einfach auch manche Dinge in einem anderen Licht erscheinen lässt. Und dass das viele Junge nicht nachvollziehen können, und vermutlich auch oft gar nicht so hören wollen. Weil sie naturgemäß natürlich ihre eigenen Erfahrungen machen wollen.

    Für sie wirkt jemand wie ich, der immer mal wieder "Früher war vieles besser" sagt, wie ein verbitterter alter Mann.

    Für mich wirken sie wie dumme, arrogante Rotzlöffel, weil sie nicht zu würdigen wissen, dass jemand mehr gesehen hat als sie und seine Erfahrung mit ihnen teilen will.

    War ich früher anders als sie, wenn mir jemand Älteres was erzählen wollte? Vermutlich oft auch nicht.

    Es ändert aber nichts daran, dass es Erfahrungen gibt, die man nur machen kann, wenn man bestimmte Veränderungen bewusst wahrgenommen hat, und nicht nur den Ist-Zustand kennt.

    Aber ich glaube, ich schweife gerade irgendwie ab...

  • Das Lied von Kontrast passt ja gut hierzu ^^


    Oswald Henke - Goethes Erben I Leseperformance I Was ist Gothic? I Stella Nomine Festival 2021
    Oswald Henke von Goethes Erben auf dem Stella Nomine Festival in Torgau. Danke für die super Leseperformance und vorallem, dass Du da warst.Was ist Gothic? a...
    youtu.be

  • Ich bin gestern mit dem Zug gefahren. Da hat sich auf der anderen Seite so ein Hipster hingesetzt, die Schuhe ausgezogen und seine stinkenden Füße auf den gegenüberliegenden Sitz gelegt, als ob es das selbstverständlichste auf der ganzen Welt wäre. Sogar der Kontrolleur, der später kam, hatte nichts daran zu beanstanden.

    Zu meiner Zeit hätte so ein Verhalten als asozial gegolten... ich glaube, das haben damals nicht mal Punks gemacht, und wenn doch, wären sie vom Kontrolleur sicher aus dem Zug geworfen worden.

    Ich will jetzt damit auch gar nicht sagen, dass das falsch oder richtig ist. Ich stelle einfach nur fest, dass es eben eine deutlich Veränderung zu der Zeit ist, in der ich aufgewachsen bin. Vielleicht ist es ja so, wie es heute ist, besser, und man muss sich auch mal richtig entspannen dürfen, wenn man schon einen Haufen Geld für die Fahrt ausgibt. Vielleicht ist es aber auch ein bisschen eklig, wenn das jeder so macht. Keine Ahnung.

    Jedenfalls merke ich an solchen Dingen halt wieder, dass sich die Welt weiterdreht ohne mich. Und dass ich alt werde.:greybeard: