Neulich wurde hier bei mir in der Gegend eine Sechzehnjährige vermisst. Sie ist wohl morgens aus dem Haus gegangen, aber nicht in der Schule erschienen, sondern wurde paar Stunden später ganz woanders von einer Überwachungskamera an einem Bahnhof gefilmt, und von da an verlor sich ihre Spur. Die Lokalzeitung hat jeden Tag darüber berichtet, immer neue Details zu dem Mädchen veröffentlicht, Fotos etc. und hat Suchaufrufe gestartet. Die Polizei flog mit Hubschraubern über die Gegend, und hat sogar jeden gebeten, der in derselben Bahn gesessen ist, sich zu melden, weil dem ja theoretisch irgendwas aufgefallen sein könnte. Sogar die BILD-Zeitung hat darüber berichtet... und mit jedem Tag, der verstrich, rieben sie sich mehr die Hände in der Hoffnung, dass irgendein afghanischer Asylant das Mädchen umgebracht haben könnte, oder so ein Psychospinner aus dem Internet... denn das hätte ordentlich Auflage gegeben. Sogar auf Allmystery haben sie einen Thread dazu aufgemacht, hab ich gesehen, True Crime macht die Leute ja immer richtig geil.
Also kurz gefasst: Das öffentliche Interesse war enorm, und jeder tat so, als ob es im Interesse der Allgemeinheit liegt, dieses Mädchen ganz schnell zu finden und den Fall restlos aufzuklären.
Nach über einer Woche wurde dann ihre Leiche gefunden. Doch, oh Schreck, die Spurensicherung fand keine Spuren von irgendwelchen Syrern oder Afghanen in der Gegend, nicht mal von einem schwäbischen Serienkiller. Sie hatte sich einfach umgebracht. Und plötzlich: 180 Grad-Wende. Die Polizei sagte sowas wie "Das ist eine furchtbare Geschichte, wenn sich ein so junger Mensch das Leben nimmt. Das geht die Öffentlichkeit nichts an!"
Die meisten Zeitungen und Online-Magazine brüsteten sich förmlich damit, dass sie über Suizid von Jugendlichen grundsätzlich nicht berichten (angeblich, um keine Nachahmer auf dumme Ideen zu bringen...) Und natürlich, ganz wichtig: Unter jedem Bericht die Telefonnummer des Callcenters, den man anrufen soll, wenn man selber oder ein Angehöriger Selbstmordgedanken hat. Und selbst im Allmystery-Forum stand dann kurze Zeit später "Thread geschlossen. Grund: Selbstmord einer Minderjährigen." Heißt so viel wie: Darüber darf nicht diskutiert werden.
Also im Grunde kann man sagen: Da liegt irgendwo an einem Hang der schwäbischen Alb die Leiche eines Mädchens, und alles, was die Gesellschaft dazu zu sagen hat, ist:
"Weitergehen! Hier gibt es nichts zu sehen. Das geht niemanden etwas an!"
Gründe, warum sie sich umgebracht hat? Irrelevant. Abschiedsbrief, und ob was drinstand? Irrelevant.
Ist halt ne private Tragödie, wenn man einen psychisch kranken Menschen in der Familie hat. Akte zu, Deckel drauf.
Und gerade hier im pietistischen Remstal scheint das eine gute Tradition zu haben. Ich könnte da jetzt auf Anhieb mehrere Fälle nennen, die ich persönlich oder vom Hörensagen kenne, wo Suizide komplett totgeschwiegen wurden. Und meistens ereigneten sie sich in so Bilderbuch-Vozeige-Familien, denen ihr Ruf in der Gemeinde oder ihrer Kirche ganz wichtig ist.
Beispielsweise ein Klassenkamerad von mir, irgendwann in der elften Klasse. Er hat sich vor den Zug geschmissen. Hat mich halt damals ziemlich überrascht, aber war mir ansonsten zugegebenermaßen relativ egal, weil ich keinen besonderen Bezug zu ihm hatte. Natürlich waren alle ungefähr einen Tag lang ganz traurig und schockiert. Und natürlich ist die Klasse komplett auf der Beerdigung erschienen. Ich hatte keinen Bock, aber ein paar Mädels aus der Klasse haben mich dann überredet, dass ich da doch unbedingt auch kommen muss, weil das ja sonst ganz seltsam wirken würde.
Da wurden dann ganz viele Blumen ins Grab geworfen, und die Eltern standen schniefend daneben, und damit war das Thema erledigt, und man hat nie wieder darüber gesprochen.
Der Schwabenrevoluzzer hat gleich 2 Cousins verloren, beide haben sich umgebracht, beide aus pietistischen, äußerst frommen Familien. Er hat da in vielen Videos darüber abgekotzt, dass das anscheinend niemandem zum Denken gegeben hat. Das Thema wurde eben ausgeklammert. Man hat höchstens darüber gesprochen, dass sie gute Menschen waren, als sie noch gelebt haben. Aber ihr Tod, und der Grund dafür? Wurde nie thematisiert.
Und die Lokalzeitung, dieses verlogene miefige Drecksblatt, macht es heute ganz genauso. Seit die Polizei gesagt hat "Todesursache Suizid. Das geht niemanden etwas an!" ist das Thema erledigt.
Man stelle sich vor, sie wäre wirklich von einem Afghanen oder Syrer umgebracht worden... noch monatelang würden die vermutlich mindestens einmal die Woche einen fetten Bericht darüber schreiben, weil das ja für die Allgemeinheit ganz wichtig ist, zu erfahren, wie genau sie umgebracht wurde und was der Täter für ein krankes Schwein war.
Aber nun, wo sie sich selbst umgebracht hat: Eiskaltes Schweigen.
"Weitergehen! Hier gibt es nichts zu sehen. Das geht niemanden etwas an!"
Und den absoluten Hohn finde ich es dann, wenn das Schweigen dann noch damit begründet wird, dass man ja so zivilisert und menschlich ist, und einem die ethischen Grundsätze verbieten, über Suizid zu sprechen, weil das ja andere Menschen theoretisch triggern könnte.
Das ist doch der Gipfel der Heuchelei! Eine Gesellschaft, in der sich jeden Tag ein oder zwei junge Menschen umbringen, ohne dass es irgendwen interessiert, ohne dass die Räder stillstehen oder man mal irgendwas an seinem eigenen Dasein hinterfragt, ist im Grunde kein bisschen zivilisiert.
Über den konkreten Fall kann ich jetzt natürlich nichts sagen, weil ich dazu auch keine Infos habe. Aber ich glaube schon, dass es in vielen Fällen etwas mit dem familiären Umfeld zu tun hat, mit dem hohen Erwartungsdruck, den die Eltern an ihren Nachwuchs haben, oder damit, dass junge Menschen gezwungen werden, gegen ihren Willen täglich an einen Ort (Schule) zu gehen, an dem sie sich zutiefst unwohl fühlen.
Sicher werden die Eltern jetzt ganz arg trauern und es nicht verstehen können, und sie werden sich vermutlich auch weiterhin für absolute Bilderbuch-Eltern halten. Im Zweifelsfall einigt man sich dann irgendwann darauf, dass die Betroffene eben starke psychische Probleme hatte, und man dies hätte früher bemerken müssen.
Und natürlich gibt es viele junge Menschen mit psychischen Problemen. Natürlich sind Depressionen weit verbreitet, und natürlich können Betroffene dann nicht mehr "objektiv" sein, und glauben in dem Moment, dass ihr Leben gelaufen ist und es keinen vernünftigen Grund mehr gibt, noch weiter zu leben und zu leiden.
Und die Medien (die jetzt alle schweigen) tun ja auch hin und wieder etwas dafür, um psychische Leiden zu enttabuisieren und Dinge wie Depressionen oder Burnout an die Öffentlichkeit zu bringen.
Nur was mir da immer viel zu kurz kommt, sind die eigentlich dahintersteckenden Ursachen... die Lebensumstände, der alltägliche Druck, der die Menschen oftmals erst krank gemacht hat. Schaut euch doch mal die Familienverhältnisse an von Leuten, die sich das Leben nehmen. (oder darüber nachgedacht haben...)
Bei den wenigsten stimmt es doch zuhause. Selbst wenn die Eltern denken "Bei uns in der Familie ist alles in Ordnung".... ist es das oft nur aus ihrer Sicht. Weil ihr Kind schon längst nicht mehr mit ihnen über seine Sorgen und Nöte spricht. Und allein das ist doch schon ein Zeichen, dass in der Familie irgendwas nicht stimmt, dass die Angehörigen irgendwann den Draht verloren haben zueinander... dass alles nur noch ein oberflächliches Ritual ist, eine Zweckgemeinschaft ohne echte Verbindung zueinander. Und an den Schulen genauso. Da ist doch was von vornherein faul, wenn die Schule zwar nach außen hin so tut, als ob sie ein Ort zum Lernen und Wohlfühlen sein soll... aber wenn sich dann jemand mal dort partout nicht wohlfühlt, dann wird das nicht in dem Sinne thematisiert, dass man vielleicht das eigene Selbstverständnis mal gründlich überdenkt, sondern die Gedanken gehen dann eher in die Richtung: "Wir müssen auffällige Schüler noch früher erkennen, damit wir sie rechtzeitig therapieren können."
Also letztlich ist die psychische Erkrankung eine dankbare Ausrede für die Gesellschaft, die den psychischen Problemen oftmals zu Grunde liegenden Ursachen entweder zu tabuisieren oder die Schuld indirekt beim Selbstmörder zu suchen (auch wenn man natürlich nicht von "Schuld" spricht in dem Moment, weil man ja immer darauf hinweist, dass derjenige krank ist und daher nichts dafür kann)
Aber wann sucht die Gesellschaft, sucht die Schule, suchen die Medien, suchen die Eltern, suchen die Politiker etc. mal die Schuld bei sich???
Wie viele Selbstmorde muss es denn noch geben, bis mal bei einem von denen der Gedanke entstehen könnte, dass unsere Familien oder unsere Schulen vielleicht zutiefst verfault sind, wenn so viele oft überdurchschnittlich kluge und sensible Menschen daran zerbrechen? Und dass man dann daran vielleicht etwas ändern sollte, und Alternativen schaffen sollte für jene, die damit nicht zurecht kommen?
Aber über diese Dinge wird vermutlich auch in der Schulklasse von dieser Julia aus Remshalden, die sich nun umgebracht hat, kein Mensch nachdenken oder diskutieren... auch wenn die jetzt zwei Wochen pädagogische Sonderbetreuung bekommen oder was auch immer man da heutzutage tut in so einem Fall.
Niemand wird auf solche Gedanken kommen, außer paar Leute hier im Forum und diejenigen, die auch schon selber ähnliche Gedanken hatten und es daher nachvollziehen können.
Ich bin mir aber ziemlich sicher, dass irgendjemand da an dem Hang auf der Schwäbischen Alb, wo sich das Mädchen umgebracht hat, ein selbstgemaltes Schild aufgestellt hat. Auf dem steht nur ein Wort...
und dieses Wort heißt: Warum?