Schubladendenken

  • Mit Sicherheit ein häufig erwähntes Thema, das immer wieder in verschiedenen Diskussionen auftaucht.

    Schließlich mag vermutlich niemand zu unrecht durch viel zu grobes Muster wegsortiert werden und danach behandelt werden.


    Aber wann ist jemand wirklich "er selbst"? Kann man überhaupt in sozialen Zusammenhängen aus Rollenvorstellungen ausbrechen? Letztlich treten wir doch immer irgendwie in einer Form von sozialer Rolle auf. Wann wäre das denn nicht der Fall?

    Zum Beispiel ist man hier im Forum User. Entsprechend werden bestimmte Verhaltensweisen von einem erwartet. Dass man z.B. hier zu den jeweiligen Themen angemessen seine Meinung formuliert, wenn man das tut. Man kann sich natürlich auch registrieren und das Forum gleich links liegen lassen, die Beteiligung ist kein Muss. Dann tritt man eben in der Rolle des Users aber auch nicht mehr auf. Fakt ist jedoch: Sobald man hier schreibt oder auch nur still mitliest, ist man User und es wird von einem erwartet, dass man sich entsprechend verhält. Dass man z.B. auf andere antwortet, dass man auch selbst mal Themen eröffnet (natürlich kein Muss, aber User machen so etwas nun mal), und wenn man das nicht möchte, dass man sich zumindest an Höflichkeiten, Regeln, den Verhaltenskodex oder was auch immer hält, dass man Themen in die richtigen Rubriken postet - auch ein stiller Mitleser hält sich an die Regeln. Alleine schon mit der Rolle als anonymer User in einem Internetforum gehen Erwartungen einher und Kommunikationsmuster, die sich bewährt haben, denen man sich ebenfalls anschließt. Hier kann vermutlich nicht jeder hunderprozentig "er selbst" sein, denn es würde nicht funktionieren, wenn man hier "gegen den Wind" schießt und alles in allen möglichen Maßen missachtet.


    So ist es letztlich doch in allen anderen Kontexten auch. Immer tritt man in einer oder mehreren Rollen auf in Kontexten, an die bestimmte Erwartungsmuster geknüpft sind. Letztlich ist auch die Erwartung, in engen Beziehungen z.B. "man selbst zu sein", damit man "authentisch" ist, nur eine Erwartung, der man dann bestenfalls entspricht. Oder auch nicht. Nicht umsonst ist man doch irritiert und es gilt als Vertrauensbruch, wenn man sich innerhalb enger Beziehungen anlügt, vorgibt so zu sein, wie man nicht ist und stetig gegen die eigenen Interessen angeht. Das Modewort dafür wäre "toxisch" - diese negative Bewertung entsteht ja nicht aus dem luftleeren Raum heraus. Aber sind wir wirklich wir selbst, wenn wir die Erwartung erfüllen, wir selbst zu sein?

  • Ein "man selbst sein" existiert so gesehen nie, wenn es schon gebrochen wird, sobald eine ganz natürliche Anpassung im gesellschaftlichen Kontext stattfindet. Ob dabei nun wirklich eine bewusstes Erfüllung von Erwartungshaltungen zutrifft, oder man es halt tatsächlich sinnvoll findet, nachts um 2 Uhr nicht die Musik auf volle Lautstärke zu drehen, das mag jeder für sich beurteilen. Ist durchaus möglich, dass jemand den Anspruch erhebt, immer er selbst zu sein, doch dann muss er sich manchmal auch eingestehen können, ein Egoist und selbstgefälliger Idiot zu sein.


    Ich würde daher Erwartungshaltung umformulieren auf einen Erwartungshorizont, über den manche Menschen eben verfügen und manche nicht. Toll wäre, wenn jeder Mensch sich seine Erwartungen selbst steckt. Und zwar nicht nur jene, die er an andere setzt, sondern die er selbst auch anderen liefern kann. Das könnte am Ende einiges an Demut erzeugen und so auch einen Kosmos, in dem man die Definition von "Erwartungshaltung" gar nicht mehr kennt, weil halt allen automatisch klar ist, welche Aktionen sinnvoll sind und welche "toxisch".


    Wer sich "verbiegen" muss, um andere nicht zu verletzten, der sollte es vielleicht viel häufiger mal machen. Nur mit dem Unterschied, dass man einen Körper eben auch in die gegensätzliche Richtung biegen kann, statt einen immer krummer werdenden Radius zu einzuschlagen.

    Bestenfalls steht man am Ende für seine Taten gerade, aber wertet das nicht als ein "verbiegen lassen", sondern betrachtet stolz dass man etwas gerade gerückt hat. Auch im Kontext angesprochener Beziehungen sicher nicht die schlechteste Vorgehensweise.

  • Ich glaub, am nähesten kommt man noch "sich selber", wenn man alleine für sich ist und keinerlei Bewertungen von außen ausgesetzt ist. Aber dieses "selber sein" ist dann doch eigentlich auch nur das Ergebnis von gesammelten Erfahrungen aus der Vergangenheit? Jeder ist halt so verschieden in seinem sich "selber sein", oder?

    Ist man mit anderen zusammen, würde ich behaupten, dass man nie ganz "man selber" sein kann. Man immer Kompromisse (bzgl. seines "eigentlichen Wesens") eingeht, um andere ... ja was eigentlich?

    Kein Plan sonst. Ich denke, man ist gerade so, wie man ist, weil es sich so in der eigenen Entwicklung entwickelt habt. Es ist fast kein eigener Wille, so zu sein, wie man gerade ist, sondern es hat sich so entwickelt (durch Einflüße von außen und sonstwas). Aber ich täusche mich wahrscheinlich, wie immer. :D

  • Aber ich täusche mich wahrscheinlich, wie immer.

    Nicht du täuschst dich, sondern die Summe deiner Einflüsse, die dich haben so werden lassen, dass du dich ständig selbst kritisierst. :unknw_gif:

  • Ja ok, den letzen Satz hätte ich mir sparen können, um den Anschein zu wahren, ich wäre überzeugt von dem, was ich sabbel. :D

  • Wer sich "verbiegen" muss, um andere nicht zu verletzten, der sollte es vielleicht viel häufiger mal machen.

    Oder der sollte vielleicht sein Umfeld neu auswählen. Sich zwanghaft In etwas reinzubiegen, ist auf Dauer auch nicht effizient.


    Aber wie die Vorredner schon sagten. Ein "man selbst" gibt es nicht. Ich schätze, selbst wenn man alleine ist, kommt es dem vielleicht nur nahe. Aber dann schickt man sich meistens wieder in Rollen (putzen, kochen, organisieren).


    Das Schubladendenken, ist negativ belastet. Aber es tut jeder, weil es darum geht, schnell jemanden einschätzen zu können. Nur damit unser reptilisches Gehirn weiß, ob Gefahr droht oder nicht.

    Das man schnell mal vorverurteilt, kommt vor. Mit Übung kann man sich da aber bremsen. Wir sind ja in der aktuellen Zeit in der glücklichen Zeit, wo man nicht damit rechnet, dass Dich Dein Gegenüber absticht, wenn Du mal falsch liegst.

    Also kann man dem Vorurteil (welcher vllt auch nur durch Erziehung entstanden ist), nochmal neu reflektieren.


    Meine Eltern sind z.b. temporär rechts.

    Mal schon, mal nicht. Keine Ahnung vor was sie Angst haben.

    Jedenfalls bin ich eben auch so erzogen und aufgewachsen, dass Ausländer, Dunkelhäutige und Co. böse und schlecht sind. Erst im späteren Jugend und Erwachsenenalter wurde ich näher damit konfrontiert, aber lernte einen Ausländer einfach kennen. Und was war? Nicht böse, nicht schlecht. Ein anständiger Mensch, mit einer anderen Kultur.

    Deshalb konnte ich mein Bild ändern.


    Und inzwischen sage ich, dass die Regierung halt Mist macht. Wenn sie alle aufnehmen, ändert sich nichts. Es muss überall leb- und bewohnbar sein.

    Wir sind so fortschrittlich, aber es gibt immer noch Menschen die vor etwas weglaufen. Sowas sollte es nicht geben. Da kann der Ausländer auch nix für.

    Wenn ich höre, dass ich in einem anderen Land besser leben kann, würde ich das auch in Erwägung ziehen.


    Man soll halt mit den tausend Schubladen immer wieder mal einen Schritt zurück machen. Dann erkennt man vllt, dass es immer noch ein Mensch ist.

    Es lebe die Freiheit, die Meinungsäußerung und der Respekt anderen gegenüber.


    Will man einen Menschen genauer beurteilen, so muß man die Geschichte seiner Kinder- und Jugendjahre kennen.

    - August Bebel

  • Es ist fast kein eigener Wille, so zu sein, wie man gerade ist, sondern es hat sich so entwickelt

    Schopenhauer hat das mal sehr treffend auf dem Punkt gebracht mit dem Satz: "Man kann tun was man will und denken was man will aber man kann nicht wollen was man will". Dementsprechend hat er den Willen als urtreibende Kraft verstanden. Gut, da gibts noch andere Aspekte; Wie z.b. dass man das ego überwinden soll oder diese Ich-Auflösung nach der einige trachten..


    Zu schubladendenken neigt jeder irgendwie. Man analysiert die Umgebung auf abstrakter ebene, gewinnt abstrakte einblicke, kategorisiert und am ende ordnet man die Leute und seine Erfahrungen nach diesen Kategorien ein. Solange jeder sich selber für sich seine eigenen Schubladen bildet dürfte das nicht weiter auffallen, nur wenn dann Gruppendenken ins spiel kommt und die gruppe sich anhand ihrer Feindbilder identifiziert wird es für denjenigen, der in eine solche schublade gesteckt wird eher unangenehm. Dabei fällt mir auf, dass in den letzten jahren die Leute dazu neigen, sich gegenseitig auf irgendwelche extremen Ansichten zu reduzieren. Sozialdynamik hin oder her aber bestimmte hetzerische Artikel in den Leitmedien tragen da einen sehr relevanten Teil zu dieser Entwicklung bei. Überwindet man das, fällt oft auf, dass die Meinungen eigentlich gar nicht soweit auseinander liegen.

  • Schönes Thema, Lissaminka. Jeder Thread, der nicht über Corona-Maßnahmen, Links/Rechts-Streitigkeiten oder Gunnar Kaiser handelt, ist sehr willkommen! :okay:


    Und eine sehr philosophische Frage... kann man überhaupt wirklich man selbst sein?

    Ich denke mal, wir sind uns zumindest darin einig, dass es Situationen im Leben gibt, in denen man mehr man selbst ist, und solche, in denen man es eher weniger ist.

    Beispielsweise wird man bei einem Bewerbungsgespräch oder wenn man in der Öffentlichkeit ein Amt ausübt, sein Verhalten sehr stark danach ausrichten, was andere von einem erwarten, um nicht in einem schlechten Licht zu erscheinen. Während man in seiner Freizeit, wenn man mit seinen Freunden rumhängt, normalerweise eher nicht so viel darüber nachdenken wird, wie das Verhalten bei den anderen ankommt, weil man sich ja kennt und weiß, dass man niemandem etwas beweisen muss (jedenfalls im Idealfall, wenn es nicht gerade ne völlig oberflächliche Clique ist, wo alle nur versuchen, sich gegenseitig zu zeigen, wie cool oder witzig sie sind)

    Es gibt also Momente, da ist man näher dran an sich selbst, und Momente, in denen das weniger der Fall ist.

    Also gibt es wohl so eine Skala von "Das totale Gegenteil von man selbst sein" bis "total man selbst sein". Und alles, was wir tun, liegt irgendwo dazwischen auf dieser Skala.

    Das bedeutet aber auch, es gibt eine Art Idealzustand, in dem man wirklich ganz man selbst ist. Ob dieser Zustand jemals komplett erreicht werden kann, oder eher ein unerreichbares Ideal darstellt, ist dann wieder eine andere Frage.


    Ich würde sagen, als ich vorhin im Wald gewesen bin, war ich ziemlich ich selbst. Ich bin gelaufen in meinem eigenen Tempo, stehen geblieben, wo ich wollte, und hab mir die braungefärbten Blätter angeschaut, wann ich wollte und wie lange ich wollte. Ich habe genau das getan, was ich tun wollte.

    Wäre ich nun nicht mehr ich selbst, wenn jemand anderes mit mir zusammen durch den Wald gelaufen wäre? Wenn ich genauso stehen bleiben kann, so lange ich will, tun kann, was ich möchte, ohne dass mich der andere hetzt, kann ich doch trotzdem genauso ich selbst sein, wie wenn ich alleine wäre. Vielleicht muss ich auch mal stehen bleiben, weil der andere sich irgendwas anschauen will, da kommt es dann wohl darauf an, ob mich das stört, weil ich eigentlich was komplett anderes will, oder ob es mir relativ egal ist und ich bereit bin, mich auf die Perspektive des anderen einzulassen.

    Und wenn man währenddessen miteinander redet? Da ist dann eben die Frage, ob ich meine Gedanken äußern kann, wie sie mir gerade in den Sinn kommen... also ob einfach das Äußern meiner Gedanken und die aufrichtige Neugier auf eine Antwort meines Gegenübers der Grund für das Gespräch ist... oder ob es mir bei dem Gespräch eher darum geht, einen bestimmten Eindruck bei meinem Gegenüber zu erwecken, weil ich ihn beeindrucken bzw. in irgendeiner Form manipulieren will.

    Wenn Letzteres nicht der Fall ist, sehe ich keinen Grund, warum man nicht auch im Zusammensein mit einem anderen Menschen genauso man selbst sein könnte, wie man es ist, wenn man in einer angenehmen Atmosphäre allein mit sich selbst ist.


    Es ist immer mein Bestreben gewesen, Freunde zu finden, bei denen ich auf diese Weise ganz ich selbst sein kann. Wo ich mir keinen dummen Spruch verkneifen muss, aus Angst jemand könnte ihn falsch verstehen. Wo ich aber auch nicht unbedingt witzig oder geistreich sein muss, wenn mir gerade nicht danach ist. Wo dieses ganze Schwanzvergleichs-Denken oder die Befürchtung, den anderen nicht zu genügen, überhaupt keine Rolle mehr spielt und sich daher auch nicht auf mein Verhalten auswirkt. Ist nicht ganz einfach, solche Menschen zu finden, aber ich weiß, dass es möglich ist. Vielleicht nicht gleich beim ersten Aufeinandertreffen, wenn noch der Wunsch, einen guten Eindruck zu machen oder zumindest nicht wie ein totaler Volldepp zu wirken, im Vordergrund steht... aber früher oder später.

    Aber sind wir wirklich wir selbst, wenn wir die Erwartung erfüllen, wir selbst zu sein?

    Nun... wenn man eigentlich gar nicht man selbst sein will, aber es trotzdem versucht, um die Erwartung von einem anderen Menschen zu erfüllen, dann ist man natürlich nicht man selbst. Aber wenn man man selbst sein will, und der andere auch will, dass man man selbst ist... wo liegt das Problem? ;)

    Natürlich kann man sich auch selbst mit dem "man selbst sein wollen" unter Druck setzen, wenn man das beispielsweise nur deshalb versucht, weil man es in einem Lifestyle-Magazin gelesen hat, dass man das unbedingt so machen muss, um eine gute Beziehung zu führen... und dann versucht man es verkrampft und weiß auf einmal gar nicht mehr, wie es sich eigentlich anfühlen sollte, wenn man ganz man selbst ist. Aber ich denke, so kompliziert ist das alles gar nicht. Was wir sind, ist in uns drin, und so lange wir noch nicht komplett gehirngewaschen sind von unserer Umgebung, wird das auch immer zu finden sein, wenn wir danach suchen in einem stillen Moment.

  • Ich würde sagen, als ich vorhin im Wald gewesen bin, war ich ziemlich ich selbst.

    Also ich würde das eigene Sein schon abspalten vom eigenen Handeln. Ich kann gut und gerne Ich selbst sein, auch wenn ich im Stau stehe und gerade nicht wegkomme. Ansonsten wäre man, gestrandet auf einer einsamen Insel, ja auch niemals wirklich man selber. Dabei stelle ich sogar die Behauptung auf, dass ich gerade dort für einen so langen Zeitraum wirklich Ich sein könnte, wie noch niemals zuvor in meinem Leben.


    Ich würde sagen, man ist dann nicht man selbst, sobald man entgegen seines eigenen Bedürfnisses sagt oder tut, was man nicht möchte. Ich würde das auch nur im rein menschlichen Kontext bewerten. Wenn es im Wald plötzlich sehr stark anfängt zu regnen und ich laufe schneller und stelle das Verweilen ein, dann steht das dennoch in keinem Kontrast zu einem Man-Selbst-sein. Dasselbe gilt auch, wenn sich mir eine Bache mit ihren Frischlingen in den Weg stellt, und ich nun lieber doch einen anderen Pfad einschlage.


    Man ist eben nicht nur dann man selbst, wenn man sein eigenes Ding durchzieht. Aus diesem Grund sind gewisse Gestalten auch nicht per se verehrenswerte Helden, die sich von niemanden etwas sagen lassen, sondern sehr oft sogar ziemlich asozial, egoistisch und dumm (auch wenn sie selbst natürlich absolut glauben, sie seien sich immer treu geblieben und lassen sich niemals verbiegen).

  • Ich glaube, man kann gar nicht anders und ist immer Man/Frau selbst. Es geht eher um das Abfinden damit, Selbstakzeptanz oder Annahme mit all den Fehlern. Wenn man sich selbst liebt ist man selbst und frei. Ich denke es geht auch um die Geißel der Erwartungen, der Perfektion, wer keine Wünsche hat ist glücklich, aber ohne Leide kein Leben. Schlussendlich sind wir ein Produkt verschiedenster Einflüsse unserer Umgebung und befinden uns in ständiger Wechselwirkung mit dieser. Aber ohne diese Verblendung/Abspaltung wäre Bewusstsein/Ego nicht denkbar.

    -- Liebe macht frei, Arbeit nicht immer! --


    Steckt nicht in uns allen ein kleiner Anarchist, Spießer, Kapitalist, Faschist, Kommunist, Individualist und Querdenker?