2014 habe ich die Unity Philosophie zum ersten Mal gelesen. Damals hat mich das angesprochen. Ich möchte nun noch einmal überprüfen, inwieweit die Unity Philosophie mit meiner eigenen Philosophie übereinstimmt und einem kritischen Blick standhält.
Eingangszitat
Das Zitat, mit dem das Buch beginnt spricht sich radikal gegen Autoritäten aus. Ich teile die Auffassung, dass man jegliche Autorität hinterfragen sollte, denn niemand ist unfehlbar, insbesondere die nicht, die sich dafür halten. Der Begriff wird unterschiedlich genutzt, z. B. kann man einen Wissenschaftler eine Autorität auf seinem Gebiet nennen, aber das bezieht sich auf die Fachkompetenz, nicht auf autoritäre Umgangsformen. Aber das Zitat sagt ausdrücklich "authority of any kind" und nimmt damit jeglichen Interpretationsspielraum. Es gibt immer Leute, die auf einem Gebiet besser sind, und es ist grundsätzlich nicht verwerflich, auf deren Rat zu hören. Das Entscheidende ist, dass etwas nicht deshalb richtig ist, weil es jemand Bestimmtes sagt, sondern weil es sich unabhängig von einer Person logisch begründen lässt. Diese Begründung sollte immer eingefordert werden. Wenn jemand blinden Gehorsam fordert, sollten sämtliche Alarmglocken schrillen. Anstatt Autorität an sich würde ich Autoritarismus als das größte Übel bezeichnen. Und wahrlich, ich verabscheue Autoritarismus jeder Art! Egal ob er von rechts oder links kommt, egal ob er im großen Stil in Staat, Unternehmen oder Religionen vorkommt, oder im kleinen Stil bei Familienstrukturen, Cliquen oder Vereinen.
PROLOG
Folgende Thesen lese ich aus dem Prolog heraus: Krieg ist dumm. Politische Systeme sind vergänglich. Gesellschaftlicher Fortschritt findet statt, folglich war es früher rückschrittlicher. Heute ist es fortschrittlicher, aber noch längst keine Utopie. Autoritarismus und Kollektivismus behindern den Fortschritt und begünstigen Krieg. Diesen Thesen kann ich im Einzelnen zustimmen, aber ich habe Probleme damit, wie sie verquirlt werden.
Zuerst geht es um das Verbreiten vermeintlich fortschrittlicher Werte mit kriegerischen Mitteln, dann plötzlich auch um Fortschritt im Allgemeinen. Die Existenz des Fortschritts wird zwar leise anerkannt, aber sogleich für unzureichend und oberflächlich erklärt, wenig später wird mit "immer ungerechter werdender sozialer Verhältnisse" sogar der Rückschritt behauptet. Da dies den vorangegangenen Ausführungen über das sinnlose Sterben im Krieg und dem Niedergang von Kulturen gegenübergestellt wird, gewinnt man den Eindruck, jegliche Bemühungen um Fortschritt seien vergeblich und wir hätten immer noch die schlimmsten barbarischen Verhältnisse. Gleichzeitig wird aber auch die Bequemlichkeit, die wir aufgrund des Fortschritts haben, angeprangert und dass die Leute eben nicht für den Fortschritt kämpfen. Für diese Probleme wird die Existenz längst bekannter Ursachen und einer richtigen Vorgehensweise angenommen. Dass das alles so klar ist, wage ich zu bezweifeln.
Statistisch gesehen geht es uns besser als je zuvor. Aber die Welt ist komplex und es geht nicht jedem Einzelnen linear jeden Tag besser. Der Fortschritt ist ein zäher Prozess voller Rückschläge und Kompromisse und Wohlbefinden lässt sich schwierig objektiv quantifizieren. Dass es das eine perfekte Sytem geben würde, in dem alle glücklich sind, davon bin ich nicht überzeugt.
KAPITEL 1 - Der Mensch, das Herdentier
Es beruhigt mich, dass nun auf die unzulängliche Natur des Menschen eingegangen wird, denn ich glaube, dass die Schlechtigkeit viel zu tief in der Natur verankert ist, als dass man sie durch bloße gesellschaftspolitische Reformen beseitigen könnte. An den Ausführungen, dass Menschen das Bedürfnis nach Zugehörigkeit haben, Gruppen aber auch Regeln und Pflichten mit sich bringen, dass sie charismatischen Führern nachlaufen, aber Leute mit dem besten Auftreten nicht unbedingt die besten Absichten haben, daran habe ich über weite Strecken nicht viel auszusetzen. Dann wird erläutert, dass all unser Verhalten anerzogen werde, und das ausgerechnet am Beispiel der sexuellen Orientierung. Die ist nach meinem Kenntnisstand nicht einfach durch Erziehung umzupolen, allerdings denke ich, bei Vielen ist die angeborene Sexualität weitaus flexibler als ihr verkrampfter Umgang mit dem Thema zulässt.
Im nächsten Abschnitt wird die Findung des wahren Selbsts behandelt. Wenn wir aber nur das Produkt unserer Umwelt wären, gäbe es gar kein wahres Selbst. Obwohl die Argumentation hier holperig ist, bin ich auch der Meinung, dass es wichtig ist, in sich hineinzuhören. Aber man muss Gefühle und Fakten trennen können. Was man als "wahres Ich" ausgemacht hat, sollte man genau so einer kritischen Analyse unterziehen, wie die äußeren Einflüsse. Unsere Gehirne sind täuschungsanfällig und was man für gut und richtig hält, ist nicht zwangsläufig umsetzbar. Oft stehen Realismus und Idealismus in einem unvereinbaren Widerstreit.
KAPITEL 2 - Erziehung und Schule
Ich halte es für wichtig, den Kindern Freiraum zur eigenen Entfaltung zu geben, ihnen zuzuhören und ihre individuellen Stärken zu fördern. Von der praktischen Umsetzung habe ich null Ahnung. Es gibt so viele Erziehungsratgeber, wie es Kinder gibt und so viele widersprüchliche Anforderungen an das Kindeswohl, dass man es eigentlich nur verkehrt machen kann. Die Psyche findet immer einen Weg, jede gut gemeinte Maßnahme ins Negative zu verdrehen. Aufgrund meiner sozialen Defizite und der allgemeinen Schlechtigkeit der Welt ist es für mich die einzig ethische Entscheidung, mich nicht fortzupflanzen. Ich sträube mich ja selbst gegen das sogenannte Erwachsen werden.
Deine Reformvorschläge für das verirrte Schulsystem klingen ganz nett. Aber selbst wenn die Schule so wäre, wäre ich dort nicht freiwillig hingegangen. Nicht, weil ich nicht an Bildung interessiert wäre, sondern weil ich ein sozialphobischer Stubenhocker bin, dem fremde Menschen und Situationen ein Graus sind. Ich hatte weitaus größere Probleme damit, Anschluss an Gleichaltrige zu finden, als den Lernstoff zu bewältigen. Trotzdem will ich den Verlust an Lebenszeit durch langweiligen Unterricht nicht kleinreden.
KAPITEL 3 - Arbeit macht unfrei
Das ist mein Popcorn-Kapitel. Der Arbeitskult hat mich schon immer angekotzt und ich genieße es, wie er hier sein Fett weg kriegt. Zwar höre ich immer, dass die heutige Generation mehr Wert auf gute Arbeitsbedingungen lege und Unternehmen aufgrund des Fachkräftemangels etwas mehr Entgegenkommen zeigen müssen, aber ich habe nicht den Eindruck, dass das nennenswerte Effekte hat.
Da als Beispiel sinnloser Arbeit die Werbeindustrie genannt wird, kann ich dazu erwähnen, dass ich eine schulische Ausbildung zum Kommunikationsdesigner gemacht habe. Ich bin ja recht künstlerisch veranlagt, aber mir war klar, dass es mich nicht befriedigen würde, mich in den Dienst des schäbigen Kommerzes zu stellen. Ich liebe die Kunst ja gerade deshalb, weil sie Realitätsflucht und Selbstverwirklichung ermöglicht.
KAPITEL 4 - Der Terror der Paragraphen
Zu jedem Ungemach, das einem das Leben ohnehin bereitet, wird einem mindestens nochmal so viel Bürokratie aufgebürdet. Der wuchernde Paragraphenwald muss radikal ausgedünnt werden. Aber auch hier gibt es wieder das Problem, dass wir alle genötigt sind, uns eine Welt zu teilen und uns gegenseitig auf den Sack gehen. Selbst wenn wir uns darauf einigen, dass die Freiheit des einen erst dort endet, wo sie die Freiheit des anderen beeinträchtigt, macht die Kausalität es uns schwer.
Bei der Meinungsfreiheit zeigt sich das Dilemma. Grundsätzlich bin ich für absolute Meinungsfreiheit. Doch wie in Kapitel 1 beschrieben wurde, sind Menschen irrational und manipulierbar. Sie hören eben nicht auf die Stimme der Vernunft, sondern auf den lautesten Marktschreier und Demagogen. Und die, die am am lautesten nach Meinungsfreiheit schreien, sind oft die, die am wenigsten Toleranz für andere Meinungen haben. Die wollen nur ungehindert ihre Hetze verbreiten, und wenn sie erstmal an Einfluss gewinnen, ist es ganz schnell vorbei mit der Meinungsfreiheit. Schädliche Meinungen zu unterdrücken wäre natürlich nur Symptombekämpfung, aber wenn Worte zu Taten werden, muss man irgendwie eingreifen. Wo genau ist die Grenze, und wie geht man mit Leuten um, die für Argumente längst nicht mehr empfänglich sind?
Das Kapitel geht noch sehr lang und ist unstrukturiert. Begraben unter vielen Negativbeispielen beschreibst du, was im Grunde Politik ist. Nämlich, dass alle Leute ihre eigenen Moralvorstellungen haben, dass die gewählten Volksvertreter Kompromisse aushandeln und sich dann alle daran halten müssen. Kompromissfähigkeit gilt als eine wesentliche Voraussetzung, damit Gesellschaften überhaupt funktionieren können. Ich wünsche mir eine Welt voller reifer, weiser, toleranter Menschen, die ihre Streitigkeiten selbständig und auf zivilisierte Weise beilegen können. Aber ich habe keine Hoffnung und bevorzuge meine Phantasiewelt, in der ich gar keine Kompromisse machen brauche.
KAPITEL 5 - Heiliger Schein
Ich bin in einer säkularen Umgebung aufgewachsen, bin zeitlebens Atheist und hatte nie persönlich unter Religion zu leiden. Gemessen an diesem Umstand, beschäftigt mich das Thema übermäßig stark. Einerseits ist es für mich ein müßiger Zeitvertreib. Um mein Seelenheil brauche ich mir keine Sorgen zu machen und über Fantasygeschichten zu sinnieren macht viel mehr Spaß, als sich um lästige reale Probleme zu kümmern. Andererseits geht von gläubigen Menschen eine reale Bedrohung aus. All die Zwietracht, die Religion stiftet, erscheint mir besonders sinnlos und abscheulich, weil sie nur auf Märchen beruht. Und genau dieses Verhalten ist aus psychologischer und soziologischer Sicht wiederum faszinierend und zusammen mit der Ästhetik religiöser Architektur und Rituale inspiriert es mich für mein künstlerisches Schaffen. Anders als bei Politik oder Wirtschaft muss ich meiner Kritik auch keine Alternative nachreichen. Religion kann ersatzlos abgeschafft werden.
Deine Ausführungen über die Irrtümer organisierter Religion kann ich so unterschreiben, aber zu deinen Vorschlägen habe ich Anmerkungen. Wer mittels Drogen, Meditation oder körperlicher Extremersituationen vermeintlich übersinnliche Erfahrungen hervorrufen möchte, hat mein Wohlwollen. Jedoch deutet meines Wissens alles darauf hin, dass das nichts weiter als Halluzinationen sind. Solchen Erfahrungen nicht mit der nötigen Aufgeklärtheit zu begegnen, birgt die Gefahr, Wahnvorstellungen zu verfallen und Dummheiten zu begehen.
Die Idee, Andersdenkenden ihr eigenes Land zu geben ist insofern schwierig, da sämtliches Land schon irgendjemandem gehört. Sich auf solche Experimente einzulassen setzt voraus, dass man bereits jene Offenheit besitzt, die damit erst geschaffen werden soll.
Zwar ist ein allmählicher Trend weg von Religion zu erkennen, aber es gibt genug Krisen, um diese posive Entwicklung zu stören.
KAPITEL 6 - Die Lüge vom Vaterland
Bei allen Mängeln steht Deutschland im internationalen Vergleich immer noch relativ gut da. Ich bin erleichtert, nicht unter so einem beschissenen Drecksregime wie z.B. in China leben zu müssen. Man muss dabei auch ehrlich sein, dass ich mit sogenannten "westlichen Werten" sozialisiert wurde. Freiheit, Individualismus und Menschenrechte hat sich der Westen ja auf die Fahnen geschrieben, aber er wird seinen eigenen Ansprüchen nicht gerecht. Ob das nun den menschlichen Urbedürfnissen entspricht, oder anerzogen ist, sei mal dahingestellt. Jedenfalls halte ich es so, dass es grundlegend falsch ist, irgendeinem Land, einer Person oder sonst einer Organisation die Treue zu halten, wenn sie diese Werte mit Füßen treten. Viel mehr sollte man seinen Werten die Treue halten, notfalls gegen den Rest der Welt. Das ist aber auch wieder eine gefährliche Aussage, denn man kann ja auch die falschen Werte haben und ein sturer Fanatiker werden. Natürlich sollte man sich stetig selbst hinterfragen und offen für neue Erkenntnisse bleiben.
Ich würde es begrüßen, wenn die Länder, die dem Westen immer Dekadenz und Imperialismus vorwerfen, mal eine lebenswerte Alternative abliefern würden. Aber das sind selber nur vollgefressene, machtgeile Despoten, die auf Unterdrückung und Hirnwäsche zurückgreifen müssen, damit ihnen die Leute nicht scharenweise davonlaufen.
Ich denke, deine Vorstellung von den Sippen in grauer Vorzeit ist etwas zu idyllisch. Vielleicht waren sie zufriedener, weil ihr Leben dem entsprach, worauf uns die Evolution hingezüchtet hat, aber gerade weil die Gruppen so klein waren und sie ständig mit den Gefahren der Wildnis konfrontiert waren, musste sich jedes Mitglied einfügen und funktionieren. Naturvölker haben ja oft gar kein Konzept von Individualismus oder Privatsphäre. Dass in der heutigen Zeit der Einzelne nicht mehr so viel zählt, bedeutet auch, dass viele untüchtige Leute mitgeschleift werden, die früher gnadenlos verreckt wären. In der Anonymität kann man sich viel mehr erlauben, ohne dass es jemanden stört. In Großstädten ist es einfacher, individuell zu sein, als auf dem Dorf.
Außerdem tust du ständig gesellschaftliche Fortschritte als oberflächlich und heuchlerisch ab. Ich finde es zwar richtig, trotz erkennbarer Fortschritte kritisch zu bleiben. Schlimm ist, wenn Leute die mieserablen Zustände in anderen Zeiten oder anderen Teilen der Welt als Totschlagargument gegen Verbesserungsvorschläge benutzen: "Anderen geht es viel schlechter, sei gefälligst zufrieden!" Aber genauso blöd ist es, die miserablen Zustände mit den etwas besseren Zuständen gleichzusetzen und alles zu verwerfen, was nicht perfekter Utopie entspricht. Ja, wir haben immer noch gewaltige Probleme, aber die Ausgangslage für weitere Verbesserung ist wesentlich besser, als in einer ausgewachsenen Diktatur. Man kann dem entgegnen, dass unsere Lebensweise zu bequem und festgefahren sei, man brauche erst einen großen Knall, damit sich was ändert.
Du behauptest, die Fokussierung der Politik auf globale, wirtschaftliche Interessen gehe an der Lebensrealität der normalen Bürger vorbei und würde sie in die Arme rechter, nationalistischer Parteien treiben. Aber deine Gegenvorschläge würden das gleiche bewirken. Deutschland ist eine Industrie und Handelsnation, fest eigebettet in eine vom Kapitalismus dominierte Welt. Wenn wir die Gesetze so ändern, dass jede Investition am Einspruch der Bürger scheitert, wird sich das nicht über Nacht in ein Land voller genügsamer Selbstversorger verwandeln, das isoliert vom Rest der Welt einfach sein eigenes Ding machen kann. Es wird in massive Armut und Unzufriedenheit stürzen und unzufriedene Bürger sind anfällig für schwachsinnige Ideen. Sie laufen den Heilsversprechen autoritärer Politiker hinterher oder verscherbeln Haus und Hof an ausländische Investoren, die uns dann so ausbeuten würden, wie wir heute die Entwicklungsländer ausbeuten. Damit will ich nicht das groteske Wirtschaftssystem in Schutz nehmen, sondern die Natur der Dinge anklagen, die einem immer einen Strich durch die Rechnung macht.
KAPITEL 7 - Abstand zum Wahnsinn
Deine Art, Missstände zu beschreiben ist unterhaltsam und ich stimme zum Großteil immer noch damit überein, WAS du anprangerst. Aber sobald es um das WIE und WARUM geht, wird es der Komplexität der Welt nicht gerecht. Gelehrte und Philosophen arbeiten sich seit Jahrhunderten daran ab, ich selbst halte mich inzwischen lieber damit zurück, realistisch gemeinte Weltverbesserungsvorschläge zu machen. Die menschliche Psyche ist ein fragiles, chaotisches, planlos von der Evolution zusammengestümpertes Provisorium mit dem Zweck, nur irgendwie überlebensfähig zu sein. Dass wir überhaupt über verfeinerte Kulturfragen nachdenken können, ist ein zufälliger Nebeneffekt. Unser Gehirn ist weder darauf ausgerichtet, objektive Wahrheit oder stabiles Lebensglück zu erlangen, noch mit riesigen Gesellschaften und globalen Vorgängen adäquat umzugehen. Auf seine Gefühle kann man sich sowieso nicht verlassen. In sich zu gehen und sein Leben zu hinterfragen kann man machen, aber sich einfach in seine Gedanken einzukapseln bringt wohl kaum neue Erkenntnisse.
Ich nehme mal an, du hast das so gemacht, weil es ohnehin in deiner Persönlichkeit liegt und hast dadurch keine radikale Änderung der Lebenseinstellung erfahren, sondern deine eigene Meinung bestätigt und vertieft. Und von anderen erwartest du, dass sie das genauso machen, aber entgegen ihrer eigenen Weltsicht und zu ähnlichen Schlüssen kommen wie du. Abstand kann man auch ganz anders interpretieren, nämlich dass man eine Weltreise macht und mal ganz unvoreingenommen mit völlig anderen Menschen zusammenlebt. Das bringt gewiss mehr neue Erfahrungen und Toleranz. Kann ich aber nicht aus eigener Erfahrung bestätigen, ich bin auch eher der Kapseltyp.
KAPITEL 8 - Das Kind in uns
Das Thema ist mir sehr wichtig. Ich habe mein inneres Kind nie losgelassen. Ich lebe für Träume, Spiel und Phantasie. Den Ernst des Lebens finde ich abstoßend. Mit Befremden schaue ich auf spießige Erwachsene, die sich so sehr mit dem Ernst identifizieren, dass sie ihm alles unterordnen und jedes Hinterfragen als persönliche Kränkung auffassen. Zwar habe ich im Laufe der Zeit ein besseres Verständnis dafür entwickelt, warum die Dinge sind, wie sie sind und warum sie sich nicht so einfach ändern lassen, doch würde es mir im Traum nicht einfallen, fremdbestimmte Zwänge zu meiner eigenen Meinung zu machen.
Wenn ich das Resultat meiner Lebenseinstellung mit deinem Text vergleiche, haut das aber nicht so ganz hin. Ich bin nämlich auch introvertiert und pessimistisch, offen auf Andere zugehen ist nicht so meins. Die Erfahrung, dass man mit zu viel Offenheit aneckt und sich angreifbar macht, habe ich auch gemacht, aber ich bin deshalb nicht zu einem konformistischen Zombie geworden, sondern habe mich in meinen Elfenbeiturm zurückgezogen. Von da aus kann ich weder etwas an meinem Leben, noch an der Gesellschaft ändern.
KAPITEL 9 - Liebe und Konvention
Liebesglück zu finden ist für mich ungefähr so wahrscheinlich, wie der erste Mensch auf dem Mars zu sein. Zwar bin ich einsam, aber auch ein überzeugter Eigenbrötler. Wenn ich mir den ganzen Beziehungsstress von anderen Leuten angucke, bin ich froh, solche Sorgen nicht zu haben. Von daher kann ich deine Kritik an den ganzen Paarungsritualen und der darauffolgenden Ernüchterung nachvollziehen. Aber erzähl mir nicht, Partnerschaften wären früher tiefer gewesen. Von Natur aus ging es dabei immer nur darum, Nachwuchs zu produzieren und im größten Teil menschlicher Zivilisation waren es arrangierte Zweckehen, an viele gesellschaftliche Erwartungen geknüpft. Die Idee der romantischen Liebe wie sie heute üblich ist, ist ja angeblich eine ziemlich junge Erfindung. Das Gefühl der Liebe wird es sicher schon immer gegeben haben und auch den ein oder anderen Ausnahmefall einer besonders passenden Beziehung, aber ich glaube nicht an eine naturgewollte oder gar übernatürliche Perfektion der Liebe.
Ich habe durchaus eine romantische Ader, tief vergraben unter der Verbitterung über die enttäuschende Realität, aber in den Medien finde ich so gut wie nie eine ansprechende Darstellung von Liebesbeziehungen. Dort ist ja momentan woke und divers im Trend, was aber auf so plumpe Weise umgesetzt wird und auf seine eigene Art genauso prüde und bevormundend ist, wie die Konservativen, die zwar in einigen Punkten zurecht die übertriebene politische Korrektheit kritisieren, aber nach wie vor aus falschen Beweggründen. Beide Seiten haben das Thema verfehlt. Ich möchte maximal tolerant sein, was Liebe, Sex und Geschlechterrollen angeht. Ich bin da kein großer Aktivist, ich sehe einfach keinen Grund, mich in das Privatleben anderer Leute einzumischen.
KAPITEL 10 - Verweichlichung
Mit diesem Kapitel habe ich arge Probleme. Angefangen bei den Arschlöchern auf dem Schulhof, die einen mobben, wenn man nicht cool und machohaft ist, über die alten Säcke, die einem was vom Ernst des Lebens erzählen und dass man gefälligst erwachsen werden soll, bis zu den Psychologen und Motivationsgurus, die Resilienz anpreisen, damit man all die Schicksalsschläge ertragen kann, ist hart zu sein doch genau das, was die böse Welt von einem verlangt. Ich spucke auf alles, was die Welt verlangt, ich will verdammt nochmal so verweichlicht sein, wie ich es für richtig halte. Ich sehne mich doch nicht nach einer besseren Welt, um in ihr abgestumpft und kampfbereit sein zu müssen.
Es stimmt natürlich, dass wir heute so entfremdet von der Natur leben, dass wir ganz natürliche Vorgänge gar nicht mehr aushalten können. Aber was ist das für eine perverse Natur, in der Gewalt, Krankheit, Tod, und Naturkatastrophen als normal gelten? Wie ich bereits zu Kapitel 2 angemerkt habe, ist es moralisch verwerflich, Kinder in diese Welt zu setzen.
Ich bin absolut gegen Zensur, Tabuisierung und Verbotskultur. Ich finde kranke Scheiße faszinierend, sofern ich nicht darunter leiden muss. Die bloße gedankliche Beschäftigung mit abgründigen Themen und der Konsum entsprechender Medien bereitet einen aber genausowenig auf echte Grenzerfahrungen vor, wie es Amokläufe verursacht. Ich bin Pessimist und verstehe mich sehr gut auf düstere Gedanken. Ich habe auch schwarzen Humor und allerlei perverse Fantasien. Und ich kann bestätigen, dass nichts davon mich abgehärtet hat.
Du schimpfst undifferenziert über die Schulmedizin, als würden die unwürdigen Zustände in Krankenhäusern und Pflegeheimen die enormen Fortschritte der modernen Medizin schmälern. Das sind zwei verschiedene Dinge. Selbstverständlich sollte die Medizin ganzheitlicher, humaner und nicht profitgetrieben sein. Aber weil das Drumherum nicht stimmt, müssen wir nicht im Kern wissenschaftlich fundierte Heilmethoden schmähen oder gar auf alternative Quacksalberei hereinfallen.
Zuerst meckerst du, dass Menschen in Altenheime abgeschoben werden, damit sich niemand von ihrem Siechtum belästigt fühlt, wenig später lobst du die Indianer dafür, dass sie sich aus ebendiesem Grund freiwillig zum Sterben in die Wildnis begeben.
Die Wikinger mögen ja stolz gewesen sein, aber sie waren auch gefangen in den religiösen und gesellschaftlichen Ansichten ihrer Kultur. Wie wird es wohl einem Wikinger ergangen sein, wenn er seinen Artgenossen gesagt hätte, dass er keinen Bock aufs Kämpfen hat?
Du lästerst, dass heute alle immer gleich traumatisiert sind und psychologische Hilfe benötigen. Aber wer sagt, dass die Leute früher nicht traumatisiert waren? Sie hatten halt keine andere Wahl, als selber damit fertig zu werden, und dementsprechend waren sie auch verroht und verrückt.
Dann betreibst du wieder Täter-Opfer-Umkehr bei Vergewaltigungen und eine unseriöse Vereinfachung des Themas. Mehr Wehrsamkeit ist zwar nicht verkehrt, aber mehr Empathie auf der anderen Seite wäre auch angebracht. Aber das ganze Thema Sexualität scheint mir von Natur aus so kaputt und fehleranfällig zu sein, dass ich bezweifle, ob es jemals in den Griff zu bekommen ist.
Und nein, mehr und leichter verfügbare Waffen machen die Welt nicht zu einem besseren Ort, denn nicht nur die rechtschaffenen Leute haben dann mehr, sondern die Verbrecher ebenfalls. Das Mehr an Wehrsamkeit bei den Guten würden die Bösen mit einem Mehr an Brutalität und Skupellosigkeit ausgleichen. Das Machtgefälle würde bleiben, aber die Gewalt würde eskalieren. Irgendwann haben die Rechtschaffenen die Schnauze voll und organisieren sich, um der Lage Herr zu werden und schon entsteht wieder eine Art Polizei oder Militär.
Immerhin gibst du zu, dass du keine martialische Kriegergesellschaft willst. Ja, wären die Menschen nur reif genug, könnten sie in Frieden leben. Wären sie unbeugsam, würden sie sich nicht unterdrücken lassen. Hätte der Hund nicht geschissen, hätte er den Hasen gekriegt. Es ist fraglich, ob es überhaupt möglich ist, gleichzeitig steigende Lebensqualität und nicht abnehmende Widerstandskraft zu haben. Was das Hirn nicht benutzt, wird immer sofort abgebaut.
KAPITEL 11 - Was zu tun ist
Auch hier habe ich keine allzu großen Einwände bei deinen anfänglichen Ausführungen über Machtwechsel. Wenn man einen ungeliebten Herrscher beseitigt, sind damit keineswegs die Herausforderungen des gesellschaftlichen Zusammenlebens beseitigt. Und dabei greift man immer wieder auf einige grundlegende Konzepte zurück. Dass hierarchische Systeme so weit verbreitet sind, spricht allerdings eher für, als gegen ein natürliches Phänomen. Logischerweise sind Systeme besonders durchsetzungsfähig, wenn sie Mechanismen nutzen, um ihre eigenen Ideen in vielen Köpfen festzusetzen und fremde Ideen zu unterdrücken, und wenn sie es schaffen, viele Menschen unter einem kollektiven Ziel zu vereinen, um kleinere Kollektive und Individuen zu übermannen. Feste Strukturen bedeuten Abstriche bei der Freiheit, aber mehr Bequemlichkeit. Das ist weniger energieaufändig, als wenn jeder für sich kämpft. Den Drang nach Freiheit kann man auch eine natürliche Kraft nennen, aber das ist nur eine von Vielen und offenbar nicht immer die Dominierende.
Du sagst, in der Natur könne man das Alphatier jederzeit herausfordern. Wirklich? Welche Chance hat jemand, der Weisheit besitzt, aber nicht die körperliche Stärke, um einen Macho zu besiegen, der nur körperliche Herausforderungen akzeptiert? Er müsste die Mehrheit gegen das Alphatier mobilisieren mit Überzeugungskraft, also Propaganda. Tiere sind in keiner Weise edler als Menschen. Ich bin der festen Überzeugung, wenn sie die gleichen geistigen Fähigkeiten wie Menschen hätten, würden sie auch die gleichen Probleme haben.
Diese Aussage finde ich schön:
Zitat"nicht sie sind in der Pflicht, dem System zu beweisen, wie fleißig sie sind und wie tadellos sie funktionieren können, sondern umgekehrt. Das System hat der Bevölkerung jederzeit bedingungslos unter Beweis zu stellen, dass es etwas taugt... bezieht es doch im Grunde seine gesamte Existenzberechtigung ausschließlich aus der Behauptung, dass die Menschen mit ihm besser dran seien als ohne."
Nur gibst du in dem Kapitel namens "Was zu tun ist", keine zufriedenstellende Antwort darauf, was zu tun ist. Um das System zu ändern, müssten sich genug Leute ändern, aber damit sich genug Leute ändern, müsste sich das System ändern. Es dürfe keinen Zwang geben, aber ohne Zwang ändert sich auch nichts. Man bräuchte Jahrhunderte, damit sich das langsam entwickelt, aber wir hätten keine Jahrhunderte mehr. Das dreht sich im Kreis und am Ende vertröstest du dich damit, dass das Buch ohnehin seiner Zeit voraus sei.
DER FREMDE
Vielleicht ein andermal. Ich möchte mich erstmal auf den mehr oder weniger sachlichen Teil beschränken. Nur soviel: Die Gesellschaft auf dem Heimatplaneten des Fremden ist finde ich ansprechend. Sie weist viele Parallelen zu dem auf, was ich mir unter einer idealen Gesellschaft vorstelle.
FAZIT
Meine Weltanschauung hat sich nicht umgekrämpelt und ich kann mich immer noch in den meisten grundsätzlichen Kritikpunkten und Wunschvorstellungen in diesem Buch wiederfinden. Was die Problemanalyse angeht, ist es viel zu vereinfacht und unwissenschaftlich. Konkrete Handlungsvorschläge werden mit rhetorischen Tricks unpräzise gehalten. Ich werfe dir keine bewusste Täuschung vor und ich will mich nicht aufspielen, als wüsste ich alles besser. Wann immer ich etwas über die Menschen und die Welt lerne, stelle ich fest, wie absurd und kontraintuitiv alles ist und wie oft es dem entgegensteht, was ich für gut erachte. Die Realität macht es uns in jeder Hinsicht schwer. Deshalb fokussiert sich meine Philosophie auch nicht nur auf die Gesellschaft, sondern klagt direkt die Realität an.