Shinobi hat in einem anderen Thread geschrieben:
ZitatZu beginn war sogar der drang gegen etwas als ungerecht empfundenes vorgehen zu wollen, ausschlaggebend dafür stärker nach rechts zu rücken. Ich empfand zunehmend dass das rechte als Gegenkultur fungierte und dass das linke als Leitkultur auftrat
Und wenn es nur eine Einzelmeinung wäre, würde ich dazu nicht extra einen eigenen Thread aufmachen...
Aber Tatsache ist, dass ich das in den letzten Monaten verstärkt beobachten konnte. Menschen, die plötzlich sichtbar nach rechts rücken und Dinge sagen, die sie vor einigen Jahren so nicht gesagt hätten. Ich erlebe das im realen Umfeld, aber auch in anderen Internetforen... und es geht jetzt nicht nur um irgendwelche leicht zu manipulierenden Dumpfbacken, sondern wir reden da auch von Menschen, die sich durchaus informieren und nachdenken, und auch über Alt-Linke, die teilweise seit Jahrzehnten links waren und nun durch persönlichen Frust oder Erfahrungen anfangen, sich eher etwas mehr nach rechts zu orientieren.
Die Gründe für dieses Phänomen würde ich persönlich aber nicht so sehr in der Flüchtlingskrise suchen. Im Grunde sind die Anfänge dieser Entwicklung auch schon vor einigen Jahren sichtbar gewesen. Bevor es die Flüchtlingskrise gab, haben sich im Internet unter dem Deckmantel der "Verschwörungstheorien" immer mehr Menschen mit anti-amerikanischen, anti-jüdischen oder generell xenophoben und paranoiden Gedanken zusammengefunden.
Die Rechten haben sich im Grunde schon seit dem 11. September 2001 in Stellung gebracht und langsam die Deutungshoheit über Teile des Internets erlangt, während die Linken zumindest diese Entwicklung nur belächelt oder verschlafen haben. Und diese rechten Netzwerke, die da im Netz entstanden sind, die sind dann förmlich aufgeblüht, als wir auf einmal diese ganzen Flüchtlingsströme hatten. Und jetzt fliegen die Sporen dieser aufgegangenen Saat durch das ganze Land und werden von sehr vielen Bürgern inhaliert.
Im Grunde ist das aber wohl auch eine ganz normale Sache, da Geschichte immer in Wellen abläuft und auf jede Phase, in der eine bestimmte Seite dominiert, eine andere Phase folgt, in der die Gegenseite das Ruder an sich reißt.
Ich sehe es zwar definitiv nicht so wie die Rechten, die behaupten, dass das gesellschaftliche Establishment "links" wäre, oder die Merkel gar als "linksradikal" bezeichnen... sowas ist ja völlig paranoid...
Vielmehr ist es so, dass sich die gesellschaftliche Mitte ein paar Werte und Gedanken übergestülpt hat, die eigentlich linken Ursprungs waren... Beispielsweise die Sache mit dem Atomausstieg, oder die Abschaffung der Wehrpflicht. Vor 30 Jahren noch wäre es völlig undenkbar gewesen, dass eine CDU-Regierung die Wehrpflicht aussetzt. Nicht mal die SPD hätte sowas gefordert, sondern das waren tatsächlich größtenteils nur Forderungen von ein paar linken Spinnern. Und auf einmal wird, aus rationalen und wirschaftlichen Beweggründen heraus, die Wehrpflicht ausgesetzt. Nicht aufgrund von Ideologie, sondern aufgrund von Merkelschem Pragmatismus.
Und mit der Abkehr von der Atomkraft hat man versucht, den Grünen ihr wichtigstes Thema zu nehmen, um an der Regierung zu bleiben. Ebenso die Einführung der Homo-Ehe... das war pures Kalkül um Wählerstimmen, und hatte rein garnix mit Idealen oder Überzeugung zu tun.
Was gibt es noch für linke Tendenzen im Mainstream? Vor allem natürlich noch der von vielen kritisierte "political correctness"-Wahn. Aber auch das ist im Grunde kein Anzeichen für eine linke Dominanz in der Gesellschaft. Dass man bestimmte Dinge nicht aussprechen darf und immer darauf achten muss, was man sagt, um nicht an die Wand gestellt zu werden, ist ja im Grunde etwas ur-deutsches. Einzig, welche Dinge man nicht aussprechen darf, ändert sich von Zeit zu Zeit.
Als die Rechten mehr Einfluss hatten, durfte man nicht öffentlich sagen, dass man Männer liebt. Heute darf man nicht öffentlich sagen, dass man Schwule hasst.
Aber hat sich dadurch jemals etwas geändert an der Grundproblematik, an fehlender Meinungsfreiheit und übertriebener Bürokratie? Haben die Rechten bzw. Konservativen der Gesellschaft Meinungsfreiheit gebracht oder Bürokratie abgeschafft, als sie das Sagen hatten? Definitiv nein. Und genauso wenig haben die Linken der Gesellschaft die Meinungsfreiheit genommen.
Die Linke hatte nur eben die bessere Lobby-Arbeit geleistet in den letzten Jahrzehnten, und so hat die gesellschaftliche Mitte einige ihrer Ideen übernommen.
Und nun sehe ich in mancher Hinsicht, dass die Lobby-Arbeit der Rechten sich verbessert hat...
Und was passiert? Sofort fängt auch die gesellschaftliche Mitte wieder damit an, Ideen der Rechten zu übernehmen, und Flüchtlinge zu kasernieren und härtere Strafen zu fordern.
Das Establishment versucht sich eben, an der Macht zu halten und dreht sich gerne mal nach dem Wind. Und wenn der Wind von rechts kommt, wird man eben wieder mehr rechts. Das ist das, was aktuell meiner Meinung nach passiert. Und dann kommt eben noch dazu, dass viele Menschen das Gefühl haben, dass die wahren unangepassten Freigeister heute eher rechts zu finden sind, weil die sich noch schön getrauen, Dinge auszusprechen, die unerwünscht sind. Während die Linken mit dem Establishment gemeinsam Lichterketten und Benefiz-Konzerte veranstalten.
Also ich behaupte nicht, dass es so ist. Dass der schwarze Block nicht gerade der größte Freund der politischen Mitte ist, sollte ja eigentlich klar sein, und das sieht man ja auch immer wieder, wenn mal wieder eine Demo eskaliert, dass es durchaus noch echte Systemgegner unter den Linken gibt.
Die Rechten verstehen sich einfach aktuell nur besser darin, sich zu inszenieren und als missverstandene Staats-Opfer und Rebellen darzustellen. Und manche erkennen sich in solchen verkappten Freiheitskämpfern eher wieder als in Unpersonen wie Claudia Roth, oder was sonst so an (pseudo-)linken Galionsfiguren in der öffentlichen Wahrnehmung existiert.
Ich bin mir aber sehr sicher, dass das Pendel früher oder später auch wieder in die andere Richtung ausschlagen wird.
Spätestens, wenn die Rechten irgendwann noch mehr Einfluss haben sollten, und die Politik immer mehr Forderungen von ihnen übernimmt, um die "Volksseele" zu besänftigen... dann wird sich auch wieder der Protest der Gegenseite stärker bemerkbar machen, und dann wird man auch wieder mehr den Eindruck haben, dass die wahren Rebellen nicht rechts stehen, sondern links.
Das Dumme daran ist nur: Die Forderungen, aufgrund denen sich einige Freigeister von den Rechten angesprochen fühlen (mehr Meinungsfreiheit, Abschaffung von Tabus und political correctness etc., weniger EU-Bürokratie), die werden sich am allerwenigsten durchsetzen. Was der Mainstream übernehmen wird, ist der Ruf der rechten Seite nach mehr Polizei, mehr Kontrollen und härteren Strafen. Und weniger Rechte für Minderheiten. Was aber nicht gleichbedeutend damit ist, dass irgendeine "Mehrheit" deshalb mehr Rechte bekommen würde.
Nö. Es wird einfach nur ein paar mehr Leuten etwas von ihrer Freiheit weggenommen. Aber kein einziger von den Doofköppen und besorgten Bürgern, die AfD wählen, wird deshalb auch nur eine einzige Freiheit mehr bekommen oder auch nur einen einzigen Cent mehr in der Tasche haben. Profitieren tun davon letztlich nur die, die immer profitieren. Karrieristen, und die Industrie, und die Wendehälse, die ihre Meinung nach dem Wind drehen und immer Teil des Establishments sein werden, weil sie die nötige charakterliche Arschloch-Mentalität dafür besitzen.
So gesehen betrachte ich das alles einerseits besorgt...
andererseits aber auch mit der fatalistischen Überzeugung, dass es sowieso scheißegal ist, auch wenn morgen die AfD 50 Prozent bekommt. Dann sind sie übermorgen Mainstream und überübermorgen wird man sie wieder wie Abschaum behandlen.
Alles dreht sich im Kreis, und alle paar Jahrzehnte ist die Geschichte dazu verdammt, sich zu wiederholen... weil die Gedanken der Menschen sich halt auch wiederholen... und weil sie die gleichen Dummheiten begehen wie ihre Vorfahren, da sie immer noch von den gleichen Illusionen und Ängsten angetrieben werden.