Als ich damals Ende 1999 ins Kino gegangen bin, um mir einen "Film über illegale Boxclubs mit Brad Pitt" anzuschauen (so die Beschreibung in irgendeiner Zeitschrift damals), ging meine Erwartungshaltung ehrlich gesagt gegen Null. Zumal Brad Pitt auch nicht gerade zu meinen Lieblingsschauspielern gehörte.
Doch was ich zu sehen bekam, war nicht einfach irgendein Film... es war vielleicht Medien-übergreifend eines der Kunstwerke mit der größten gesellschaftlichen Sprengkraft der letzten 30 Jahre... die ultimative Kritik an Konsumrausch, Kapitalismus und Lifestyle-Obsession der modernen westlichen Welt. Fight Club als einen "Film über illegale Boxclubs mit Brad Pitt" zu bezeichnen, ist in etwa so, wie wenn ich die Bibel als "Geschichte über einen Zimmermann, der anfängt zu predigen und gerne Sandalen trägt" beschreiben würde. Es wird der wahren Dimension der Sache einfach nicht gerecht.
Ich habe den Film damals geliebt und liebe ihn immer noch, weil er einfach so viele Dinge ausspricht, die ich schon immer über die Gesellschaft, in der wir leben, gedacht habe... Gedanken, die im Grunde viele Menschen haben, aber die selten zuvor so gelungen auf den Punkt gebracht worden sind wie eben in Fight Club.
Dieser Thread soll dazu dienen, diesem großartigen Werk zu huldigen und ein bisschen darüber zu diskutieren. (Selbstverständlich auch über das Buch, das ja schon vor dem Film da war... aber wie die allermeisten bin ich eben durch den Film geprägt, daher werde ich mich im weiteren Verlauf der Einfachheit halber darauf beschränken, Fight Club als Film zu bezeichnen)
Erst neulich habe ich Bilder gesehen von einer Verkaufsveranstaltung, auf der tausende erfolgsgierige Geschäftsleute im Publikum saßen und viele hundert Euro Eintritt gezahlt haben, um irgendeinem dieser affigen Motivations-Coaches an den Lippen zu hängen, der voller Elan auf die Bühne trat, um ihnen zu erzählen, dass sie Verkäufer aus Leidenschaft sein sollen und ihren Beruf zur Berufung machen sollen und so einen Quatsch.
Da musste ich beispielsweise sofort wieder an Fight Club denken... und ich habe mich gefragt: Was hätte wohl Tyler Durden dazu gesagt?
Ich glaube, Tyler Durden hätte zunächst mal auf der Bühne einen gigantischen goldenen Dildo enthüllt. Und dann hätte er zu den Besuchern dieser Veranstaltung gesagt: "Ihr seid nicht das Produkt, das ihr verkauft! Ihr seid nicht das Geschäft, das ihr führt! Ihr seid nicht das Smartphone, auf das ihr starrt, um eure Aktienkurse zu verfolgen! Wann seid ihr das letzte Mal wirklich ihr selbst gewesen? Wann habt ihr zum letzten Mal wirklich gelebt??"
Diese Message, die Tyler Durden, der Protagonist aus Fight Club, für die Zuschauer hat, ist eigentlich sowas wie die ultimative Message für die heutige Zeit. Um im Bibel-Kontext zu bleiben: Ich würde sagen, so dringend es im damaligen römischen Reich vielleicht nötig war, den Menschen ein bisschen was über Vergebung und Nächstenliebe zu vermitteln, wie Jesus es getan hat... so dringend ist es heute nötig, den Menschen einen Spiegel vorzuhalten, der ihnen zeigt, wie viel Lebenszeit sie sinnlos vergeuden durch das Ansammeln von Konsumgütern oder das Rumhocken in ihren klimatisierten Büros.
Tyler Durden ist der moderne Christus, der Erlöser der IKEA-Nestbautrieb-Generation.
Doch damit nicht genug...
Fight Club gelingt das geniale Kunststück, es nicht einfach nur bei der wunderbar treffenden Gesellschaftskritik zu belassen und den Zuschauern eine Ideologie zu liefern, mit der sie sich identifizieren können... sondern im weiteren Verlauf des Films diese Ideologie auch gleich wieder ein Stück weit ad absurdum zu führen durch diese ganze Sekten-Geschichte. Indem eben gleich auch noch aufgezeigt wird, wozu es führt, wenn sich Ideologien erst mal verselbständigen und gesellschaftliche Bewegungen selbst von denen, die sie einst losgetreten haben, nicht mehr kontrolliert werden können.
Die Jünger von Jesus wurden als aufrichtige, loyale Gläubige dargestellt, die in seinem Sinne sein Werk weiterführen. Die Jünger von Tyler Durden sind kaputte, verzweifelte Gestalten, die im weiteren Verlauf des Films zunehmend zu willenlosen Vollidioten und Arbeitssklaven mutieren, die ohne eigenständig nachzudenken den Willen ihres Gurus ausführen.
Der Film gibt den Leuten also nicht nur was zu denken und regt sie dazu an, ihren Lebenstil zu hinterfragen, sonder liefert gleichzeitig auch noch die Warnung mit, es nicht zu übertreiben oder alles wortwörtlich zu nehmen, weil man sonst wieder nur ein fremdgesteuertes Lemming-Leben führt und die Kopie einer Kopie ist. (Einen solchen Disclaimer hätte ich mir auch in der Bibel gewünscht. )
Auch unter cineastischen Gesichtspunkten betrachtet ist der Film ein Meilenstein. Der Oscar für das beste Drehbuch und den besten Schnitt wäre zumindest Pflicht gewesen. Genaugenommen hätte er in so ziemlich jeder Kategorie einen Oscar verdient gehabt, hat aber anscheinend nie einen gewonnen... was ich mir wirklich nur damit erklären kann, dass der Film einigen Leuten zu radikal gewesen sein muss.
Ok, scheiß auf die Oscars. Sowas hätte Tyler Durden auch garantiert nicht gewollt. Ich erwähne es nur, um zu zeigen, dass Fight Club für seine Zeit mindestens so bahnbrechend und innovativ war, wie es früher vielleicht mal Casablanca oder Citizen Kane waren. Aber kein Cineast redet komischerweise von Fight Club. Überhaupt scheint der Film inzwischen wieder etwas aus dem Bewusstsein der Öffentlichkeit zu verschwinden... weshalb ich auch mit diesem Thread unbedingt nochmal darauf hinweisen wollte, mit der klaren Empfehlung an jeden, der den Film noch nicht kennen sollte (falls es so jemanden hier im Forum überhaupt gibt): ANSCHAUEN! Und wenn ihr auch nur einen einzigen Film im Leben anschauen möchtet: Schaut euch Fight Club an! Ich lege mich da gerne fest... für mich ist das der beste Film aller Zeiten, weil er eben nicht nur verdammt unterhaltsam und witzig ist, sondern darüber hinaus so viele wichtige Themen anspricht und so viele kluge Zitate abliefert, wie kaum ein anderer Film zuvor oder danach. Wenn ich an dieser Stelle alle denkwürdigen Zitate und Sprüche aus Fight Club aufzählen würde, würde das ein ziemlich langer Thread werden.
Was ich mir für die Zukunft wünschen würde, wäre ein neuer Fight Club-Film...
Aber nicht das selbe noch einmal, sondern irgendwie anders.. neu erzählt, eine neue Geschichte für die heutige Generation. Vielleicht so eine Art Fight Club für die Internet-Generation. Gerade was das Internet und Social Media angeht, ist in den letzten 20 Jahren so vieles dazugekommen, was es verdient hätte, von Tyler Durden mal so richtig aufs Korn genommen zu werden... dieser ganze Selfie-Wahn, die Selbstdarstellung in den sozialen Netzwerken, wo jeder Durchschnittsdepp ein Superstar sein will... diese allgegenwärtige Erreichbarkeit... Menschen, die ständig auf ihr Smartphone starren müssen und ohne nicht mehr lebensfähig zu sein scheinen... Tyler Durden hätte sie entführt und irgendwo in der Wildnis ohne Handy ausgesetzt und um ihr Überleben kämpfen lassen, um sie zu "heilen".
Es gäbe so vieles zu tun für Tyler. Zumal die Zeiten seit dem Erscheinen von Fight Club ja nochmal um einiges verrückter geworden sind. Keine 2 Jahre, nachdem im Film die Hochhäuser zum Einsturz gebracht wurden, war der 11. September 2001. Und ob ein solch radikales Ende wie in Fight Club in der heutigen Zeit noch denkbar wäre... ich wage es zu bezweifeln. Aber gerade deshalb bräuchten wir mehr solche Filme wie Fight Club. Heute mehr denn je.
Was sind eure Gedanken, Erinnerungen oder Erfahrungen im Bezug auf Fight Club? Könntet ihr euch eine Fortsetzung überhaupt vorstellen, und wenn ja, wie sollte sie aussehen und in welche Richtung sollte das gehen?