Für mich klingt das schon nach einem - meinetwegen ungewollten oder nicht reflektierten - Rechtsruck in deinen Überzeugungen.
Also was die Sache mit der Meinungsfreiheit bzw. Kampf gegen die Cancel-Culture angeht: Ich war schon immer gegen Zensur im Netz, auch als noch niemand von "Cancel-Culture" gesprochen hat. Was sich in den letzten 20 Jahren massiv geändert hat, ist vor allem das Internet, das eben nicht mehr das gleiche Netz ist, mit dem ich großgeworden bin. Damals war es eine virtuelle Gegenkultur zu der realen Gesellschaft, eine Nische für Freaks, und eben auch ein Ort, an dem andere Gesetze galten... und wann immer sich irgendein Politiker hingestellt hat und gefordert hat, dass das Netz kein rechtsfreier Raum sein darf, empfand ich das als Bedrohung meiner liebgewonnenen virtuellen Freiheit.
Heute ist das Internet Mainstream und wichtiger Bestandteil der "realen" Welt, und dementsprechend weit reicht der Arm der Justiz auch mittlerweile in den virtuellen Bereich und verfolgt Menschen wegen irgendwelcher Meinungsäußerungen, was vor 20 Jahren noch keinen Staatsdiener interessiert hätte.
Natürlich sehe ich aber auf der anderen Seite auch das Problem, dass einfach zu viel Gesindel im Netz ist und es nie so einfach war wie heute, Dummheiten und Lügen zu verbreiten. Anders als große Teile der Medien und der Gesellschaft sehe ich die Lösung aber nicht darin, juristisch jeden Furz zu verfolgen, nur weil sich irgendjemand davon beleidigt oder gestört fühlt, sondern ich denke, es muss auch eine Kultur des Aushaltens geben, oder einfach des Ignorierens, wenn einen irgendeine Meinungsäußerung stört. Klar muss man auch versuchen, die Menschen höflicher und klüger zu machen, dass sie nicht so viele Dummheiten und Hetze verbreiten. Aber ich finde eben auch, es beruht auf Gegenseitigkeit, und vielleicht sind viele Mainstream-Leute auch einfach zu weich und müssten vielleicht auch mal lernen, unangenehme und dumme Meinungen auszuhalten. Mir geht die öffentliche Debatte einfach viel zu einseitig nur in die Richtung "Das muss man verbieten, da muss der Staat hart durchgreifen, etc."
Aber klar ist das ein Thema, das etwas widersprüchlich ist... und nur, weil ich finde, dass man z.B. das Existenzrecht Israels oder den Holocaust leugnen dürfen sollte, ohne dafür bestraft zu werden, heißt das ja nicht, dass ich mich den Holocaustleugnern oder Israelgegnern dadurch geistig verbunden fühlen würde. Es geht mir da wirklich nicht um links oder rechts, sondern einfach darum, dass ich es grundsätzlich krank finde, wenn man Menschen dafür bestraft, dass sie ihre Meinung sagen. Das ist eigentlich etwas, was IMHO nur in einer Diktatur passieren sollte.
Diskutieren muss man aber sicher darüber, wo Meinungsäußerungen aufhören und wo gezieltes Mobbing und Belästigung anfängt, und was man als Gesellschaft dagegen unternehmen möchte, damit die Menschen respektvoller miteinander umgehen. Generell denke ich, müsste ich eigentlich in einer Neuauflage der Unity-Philsophie auch ein ganzes Kapitel übers Internet oder soziale Medien einfügen, so wichtig wie das Thema in der öffentlichen Wahrnehmung mittlerweile geworden ist.
- Wunsch nach mehr Abschottung und Abwehr 'unerwünschter Menschen'
Wenn du es unbedingt als "Rechtsruck" bezeichnen magst, dann wird das wohl am ehesten auf diese Thematik zutreffen, dass ich ein paar meiner früheren Ansichten heute etwas differenzierter sehen würde. Aber ich muss dir ja nicht erzählen, aus welcher Zeit ich bzw. wir kommen, und wie das damals in den 90ern noch war, als Asylantenheim brannten und Skinheads durch die Straßen marschiert sind. Da fiel es wahrlich nicht schwer, sich zu positionieren und für eine Seite zu entscheiden, und es war selbstverständlich, als intelligenter aufgeklärter Mensch "gegen Nazis" zu sein.
Seither hat sich viel geändert, und die Dinge sind eben doch ein bisschen komplizierter geworden, auf so vielen verschiedenen Ebenen, so dass mir die Idee eines schweizerischen Idylls, das sich ein Stück weit von dem Wahnsinn der Welt abschottet und nicht jeden reinlässt, mittlerweile gar nicht mehr so rückständig und spießig erscheint wie früher vielleicht. Zumindest muss man meines Erachtens schon darüber nachdenken, ob eine wie auch immer geartete utopische Gesellschaft überhaupt aufgebaut werden kann auf einer Welt, in der die Mehrheit der Menschen immer noch in Diktaturen leben und (überspitzt formuliert) die eine Hälfte der Weltbevölkerung gern in dein Land kommen würde, wenn es dort alles umsonst gibt, und die andere Hälfe dich am liebsten vernichten möchte, weil sie es dir nicht gönnen oder aus irgendwelchen ideologischen Gründen gegen deine Utopie sind. Du siehst ja in Israel, wie das ist, wenn du in einer blühenden Oase lebst, und um dich herum leben viele Menschen in Armut und mit komischen Glaubensvorstellungen. Ohne Grenzen und Militär wäre das Land jedenfalls nicht mehr da. Das heißt ja nun nicht, dass ich deshalb Grenzen und Militär glorifizieren möchte oder Netanjahu gutfinde. Aber man muss eben schon realistisch sein und sich fragen, wie man seine Utopie schützen möchte... und wie viel davon in ein paar Jahren noch da wäre, wenn man es nicht tut.