Nachtnotizen Ein Schuss, kein Treffer. Von meinem Balkon aus beobachte ich einen Schwarm schwarzer Vögel, die aufgeschreckt dem Himmel emporsteigen, um dann in alle Richtungen davonzufliegen. Es sind Raben. Der Bürgermeister hatte veranlasst, sie aus der Stadt zu vertreiben, da sie zu viel Lärm machen und auch sonst nicht sehr beliebt bei den Menschen sind. Das scheint bei ihnen eben so zu sein: Tiere und Pflanzen, gar auch Menschen selbst werden in „nützlich“ und „nicht nützlich“ eingeteilt. Das Nützliche kann gut ausgebeutet werden, dem Unnützen hingegen gar die Existenz abgesprochen werden. Ich friere und begebe mich wieder zurück in meine Wohnung. Am nächsten Morgen werfe ich wieder einen Blick auf den Baum. Ich lächle in mich hinein, denn was sehe ich? Die Raben sind unbeirrt damit beschäftigt, neue Nester zu bauen, nachdem ihre alten gestern zerstört und auf sie geschossen wurde. Ich beschließe, einen Spaziergang zu machen, denn ich bin noch nicht richtig wach. So habe ich gestern Abend noch lange in Büchern gelesen. Das ist wohl meine Art der Flucht. Wie seltsam die Fassaden der Gebäude der Menschen aussehen. Sicher gibt es auch schönere Orte, aber dieser hier ist eine graue Betonwüste. Der Mensch, der bei diesem Anblick nicht depressiv wird, kann sich wahrlich glücklich schätzen. Wahrscheinlich wäre es am Besten gewesen, gar nicht erst in die Lage gekommen zu wären, hier wohnen zu müssen. Ich weiß schon, was ihr jetzt sagt: „Jeder ist seines Glückes Schmied.“ Ich frage nur zurück: „Tatsächlich?“ Mit einem spöttischen Grinsen auf den Lippen, gehe ich weiter meinen Weg. Er führt mich vorbei an grüne Wiesen, glitzernde Gewässer. Ein wahrlich starker Kontrast zur menschgemachten Betonwüste. Leider weiß ich, dass irgendwann mal alle grünen Wiesen der Vergangenheit angehören werden. Im Park treffe ich ein paar Raben. Ich habe ein paar Nüsse dabei, um sie zu füttern. Im Gegensatz zu anderen Menschen, die diese Tiere nicht leiden können, faszinieren sie mich. Es interessant sie zu beobachten. So haben sie doch ein angenehm schwarzes Federkleid. Außerdem haben sie eine elegant spöttische Attitüde. Wie sie sich hüpfend auf dem Boden fortbewegen, zaubert mir immer wieder ein Lächeln ins Gesicht. Manchmal fühle ich mich ihnen mehr als anderen Menschen verbunden. Mittlerweile ist ein Jahr vergangen. Ein Jahr voller Banalität, aber auch Genialität im Augenblick. Die Menschen trieben in der Zeit weiter ihr Spiel mit den Raben: Nester zerstören, Schüsse. Und doch bauen die Raben mit voller Beharrlichkeit immer wieder neu. Wieder und wieder. Sie wurden gar zu Dieben für ihren Nestbau und obwohl sie doch einfach an einem anderen Ort Nester bauen könnten, kehren sie lieber wieder zu dem Baum zurück, von dem sie vertrieben wurden. Letztendlich bin ich mir nicht ganz sicher, wer ein Spiel mit wem spielte. Mein Traum war es immer, die Welt zu verändern. Nicht ich persönlich, jedoch wollte ich gern Teil dieser Veränderung sein. Oft dachte ich, ich wäre in der falschen Zeit geboren. Wie viel Zeit habe ich damit verschwendet, Menschen zu finden, die ähnlich gestrickt sind wie ich? So musste ich zwangsläufig oft hinter viele Masken blicken. Vielleicht trage ich manchmal auch selbst eine. In dieser Welt bleibt das nicht aus. Resignation legt sich über mich, so wie der Schnee die schlafenden Pflanzen bedeckt. So setze ich mich unter den Baum der letzten Rebellen unserer Zeit und schlafe ein. „Na endlich! Ich habe Dich schon erwartet“, sagte er und deutete mir an, ihm zu folgen. Ich tat es, denn was habe ich schon zu verlieren? Traum oder Realität, wer kann das sagen? Er geht zielstrebig in den Wald und ich folge ihm. Seltsamerweise fürchte ich mich nicht. Er hat eine beruhigende, wenn auch mysteriöse Ausstrahlung. Wahrscheinlich sollte man sich auch eher vor völlig normal wirkenden Menschen fürchten. Erstaunlich, was hinter deren Fassade manchmal zum Vorschein kommt. Auf dem Weg durch den Wald redet er kein Wort mit mir. Seine Schritte verfolgen jedoch zielstrebig den mir unsichtbaren Pfad zu dem mir unbekannten Zielort. „Hier ist es“, sagt er. Er sucht eilig in seiner Manteltasche nach dem Schlüssel der Tür des Hauses, vor dem wir uns befinden. Das unscheinbar wirkende Haus ist eine Einsiedelei und befindet sich selbstverständlich mitten im Wald, umgeben von der hiesigen Vegetation. Elegant öffnet er die Tür und bittet mich hinein. „Setz Dich“, sagt er und zieht seinen schwarzen Mantel aus. Überhaupt ist er völlig in Schwarz gekleidet. „Ich lebe schon seit längerer Zeit hier. Ich liebe die Abgeschiedenheit und habe hier die Zeit, mich meinen Gedanken und Gefühlen zuzuwenden und die schöpferische Kraft der Natur auf mich wirken zu lassen. Stört es Dich, wenn ich ein wenig Hintergrundmusik laufen lasse?“ Dies verneine ich und so ertönt Michael Sardous Je Vais T´Aimer im Haus. Er lacht: „Verzeihen Sie mir meinen kitschigen Musikgeschmack.“ In der Tat hat der Song etwas Kitschiges, zugleich erfreuen sich meine Ohren jedoch auch an der einen oder anderen Textstelle. Das sage ich jedoch nicht, um mich nicht in Verlegenheit zu bringen. Er setzt sich auf einen Stuhl, zündet sich eine Zigarette an und beginnt einen nachdenklichen Monolog: „Ist es nicht interessant, wie fragil der Zustand doch ist, den wir zuvor gar nicht als zerbrechlich erachteten? Wie ein Kind, das einen zugefrorenen See betritt: Solange die Eisschicht dick genug ist, gibt es keinen Grund, an ihre Beschaffenheit zu denken, sich ihr überhaupt bewusst zu sein. Erst, wenn das Eis Risse bekommt und unseren Schritten splitternd nachgibt, erkennen wir entweder, dass wir uns zuvor einer Illusion hingaben oder wir kommen gar nicht mehr dazu, uns ihr bewusst zu werden und verfallen in Schockstarre, wenn es soweit ist. Die Realität lauert der Illusion auf, wie ein hungriges Raubtier und wir sind entweder der schockiert dreinblickende Beobachter oder mitten in diesen Vorfall verwickelt, wie in einen Unfall. Wann werden Menschen endlich verstehen, dass die von ihnen erträumte Sicherheit und Ordnung nicht existent ist, außer vielleicht in ihrem eigenen Hirn? Sie können sich doch noch nicht mal ihrer Selbst sicher sein. Es kann, am Rande bemerkt, sehr belustigend sein, zu beobachten, wie sehr die Menschen damit beschäftigt sind, ein wenig Ordnung in eine unberechenbare Welt zu bringen. Wie sie sich Systeme ausdenken und wie sie akribisch Akten ordnen, wie sie Zeitpläne erstellen und mit welcher Ernsthaftigkeit und Engstirnigkeit sie ihren Beschäftigungen nachgehen. Vielleicht wollen sie ihr eigenes Leben verwalten – wer weiß das schon? Jedes fühlende Wesen bekommt eine Gänsehaut bei ihrem dröhnenden Bestreben, jeden weichen Träumer, jeden bunten Individualisten in ihren Ordnungswahn zu zwingen, in ihr Korsett zu pressen und letztlich zu absorbieren. Und dennoch ist es noch keinem Menschen je gelungen, die Natur zu ordnen. Wenn ihr es doch glaubt, ist es ohnehin nur eine Ordnung aus Menschensicht. Es ist unmöglich, die schöpferische Natur in vorgestanzte Schablonen zu pressen. Löwenzahngleich werden ihre Wurzeln alle menschlichen Beschränkungen überwinden und selbst Beton zerbricht unter ihrer Kraft!“ Er sieht mir lächelnd in die Augen. „Das kommt Dir alles bekannt vor, nicht wahr? Das ist der Grund, warum Du jetzt hier bist.“ Er nimmt meine Hand und führt mich zu einem Klavier, welches sich in einer Ecke des Raumes befindet. „Setz Dich bitte. Ich möchte Dir etwas vorspielen.“ Und so spielt er die schönsten und süßesten Melodien, die mein Ohr, mein Geist und auch mein Herz je vernommen hat. Tränen laufen über mein Gesicht. Wie kann diese Welt gleichzeitig zu aller Rauheit so etwas Sanftes hervorbringen? Ich öffne die Augen und blinzle benommen. Bin ich tatsächlich hier unter dem Baum eingeschlafen? Ich schaue auf meine Uhr. Sie ist stehengeblieben. Seltsame Begebenheit. Zwar hatte ich schon oft seltsame Träume, doch habe sie noch nie so real wie diesen empfunden. Wenn, dann war es eher die Sorte von Träumen, die einer Kaffeefahrt in die Hölle glichen. Wie so Vieles auf dieser Erde, kann man sich seine Träume eben nicht aussuchen. Ich stehe auf, schüttle Blätter und Krabbeltiere von meiner Kleidung und mache mich auf den Weg nach Hause. (Wo auch immer das sein mag.) Mittlerweile ist es Abend geworden. Vielleicht befindet sich neben all der unzähligen Werbung Post für mich im Briefkasten, wenngleich keine Liebesbriefe zu erwarten sind. Und so fische ich Prospekte, Reisewerbung, Parteiwerbung, Autowerbung, Lippenstiftwerbung, Alkoholwerbung, Bettwäschewerbung, Haustierfutterwerbung (…) Wie sagte Gundermann mal sinngemäß in einem Interview? Es sei schade, dass sowas Schönes wie ein Baum für die Bild-Zeitung sterben müsse. Ich kann nur zustimmen. Zum Glück sagte er noch: „Wo nichts ist, ist alles möglich.“ Zustimmung. Plötzlich entdecke ich einen Brief. Das Briefpapier wirkt so antik, als wäre es noch von einem Papiermacher hergestellt worden. Irgendwie bin ich auch froh, dass es auch sowas wie Papier gibt. Wahrscheinlich ist das der einzige Ort, an dem ich meine Gedanken sortieren und sie einigermaßen ausdrücken kann. Jedoch ist dies auch oft ein sinnloses Unterfangen. Wie Nietzsche bereits schrieb: „Ich bin nicht der Mund für diese Ohren.“ Der Mund bin ich ohnehin nicht. Vielleicht noch nicht mal der Schreiber für diese Augen? Der Brief trägt die Überschrift: Maskenball Guten Abend! Welche Rolle spielst Du heute? Du hast viele Rollen zur Auswahl und wenn Du weise wählst, bringen sie Dich in der Gesellschaft weiter. Der Preis dafür ist lediglich der Verlust Deiner Integrität. Sie zu leben macht Dich – zumindest oberflächlich betrachtet – ohnehin verletzlich. Du brauchst so etwas wie eine Schutzausrüstung. Scheinbar ist es gefährlich, anderen Menschen Deine Imperfektion zu zeigen, Deine Unvollkommenheit zu offenbaren, weil Du glaubst, genau hier angreifbar zu sein. In Wirklichkeit jedoch bist Du in dieser Verletzlichkeit unverletzlich. Zeigt sie doch, dass Du innerlich lebendig und kein Maschinenmensch bist. Die Verletzlichkeit ist ein Teil von Dir, wie die Nacht auch Teil eines gesamten Tages ist. Hinfort mit Deinen Rollenspielen und Verkleidungen! Sie sind nichts als bloßer Zeitvertreib und Ablenkung. Deine Maske darf Deine Integrität nicht verschlingen. Zeig Dich in Deiner Ganzheit und ermuntere auch andere, dies ebenfalls zu tun. Denn: Wer will schon ewig Karneval feiern? Vielleicht sind all die Außenseiter und Loser der Gesellschaft Dir sogar ein Stück voraus? Sie haben es nicht nötig, sich zu verstecken und sich künstlich auferlegten Maßstäben anzupassen (und das sogar, obwohl Du über sie lachst) Wer weiß, vielleicht lacht das Leben am Ende über Dich? Pass außerdem auf, keinem Puppenmacher oder Puppenspieler in die Hände zu fallen. Auch diese gibt es auf der Welt zu Hauf. Eigentlich möchte ich gar nicht wissen, wie viele Marionettenfäden sich durch die Welt ziehen. Am Ende hätte man vermutlich ein einziges Fädenwirrwarr. Ich hoffe, wir sehen uns wieder. L. Dann war es also doch kein Traum?! Spaziergang an der grauen schroffen Felsenwand -Ein schillernder Stein Am nächsten Morgen habe ich wie immer Mühe aus dem Bett zu kommen. Schläfrig begebe ich mich auf den Balkon. Die Raben sind aufs Neue mit dem Nestbau beschäftigt. Auf dem Boden liegt eine Feder. Schwarz-glänzend schillert sie in der Sonne. Was fange ich mit dem heutigen Tag nur an? Um die Nachrichten brauche ich mich nicht zu kümmern. Es macht mich depressiv, mir die Dinge zu vergegenwärtigen, die auf der Welt schieflaufen und die ich nicht ändern kann. Wie wenig Einfluss ein einzelner Mensch doch auf die Geschehnisse der Welt hat. Gleichzeitig jedoch, was ein ziemliches Paradoxon ist, hat ein einzelner Mensch das Potenzial, sich selbst zu ändern, was mit etwas Glück auf die Umgebung abfärbt. Ich habe nicht das Gefühl, besonders produktiv in der Veränderung des Weltgeschehens zu sein. Vielleicht liegt dies auch an mangelnden Vorbildern oder Weggefährten. Weggefährten und Vorbilder, die inspirieren, Zustände zu hinterfragen. „So und nicht anders!“ Dieser Spruch jagt mir in Windeseile einen Schauer über den Rücken. Mich ekelt dieser Satz nahezu an. So ist er doch der Ausruf von Menschen, denen jegliche Fantasie abhandengekommen ist. Sie klammern sich mit ganzer Kraft an verstaubte, antiquierte Modelle. Gewiss fühlen sie sich dabei besonders kompetent, da sie, ihrer Meinung nach, eine gewisse Ordnung aufrechterhalten. Innerhalb dieser Ordnung wiegen sie sich in Sicherheit und im gebetsmühlenartigen Rezitieren bestehender dressierter Gegebenheiten kann ihr Ego sich aufblähen. Wenn das Herz schon nicht fliegen kann, so wenigstens das Ego. Das Problem ist dabei jedoch, dass sie sich selbst jegliche Chance auf Veränderung nehmen. Welche Möglichkeiten ihnen doch entgehen. So gibt es gewiss nicht nur eine Art, sein Leben zu gestalten. Jedoch ist das Streben nach Gleichheit im Sinne von Normvorstellungen und Leistungsstreben in den meisten Fällen der Anerkennung anderer Menschen sicher. Ein Fortschritt (damit meine ich nicht den Fortschritt, den die meisten Menschen meinen: Optimierung zur Leistungssteigerung, sondern ein Fortschritt des Lebens im Einklang mit der Natur) wäre, Koexistenz und Vielfalt zu gewähren. Etwas auszuprobieren wie ein Kind und aus dem Ergebnis Schlüsse ziehen. Dabei sollte man in seinem Inneren jedoch einen ethischen Funken besitzen, der dazu veranlasst, nicht ausschließlich nach eigenem Vorteil zu handeln. Menschen behaupten oftmals, sie würden sich ganz erheblich von Tieren unterscheiden und doch sind ihre Handlungsmotive von ziemlich ähnlicher Struktur. Wann haben wir eigentlich unsere kindliche Neugier und Offenheit verloren? Werden wir sie jemals wiederentdecken oder stecken wir lieber fest und kommen uns dabei wahnsinnig intelligent vor? Es erinnert mich an einen Menschen, der vorgibt, etwas zu sein, was er nicht ist. Er möchte besonders intelligent wirken, aber aus seinem Mund kommt nur peinliches Zeug und Fremdschämen ist angesagt. Glücklicherweise gibt es auch heute noch einige wenige Menschen, die ihre Neugier nicht verloren haben und sich selbst nicht so verdammt wichtig nehmen. Das sind Menschen mit offenen Türen in ihrem Herzen. Findest Du einen dieser seltenen Spezies so darfst Du Dich wahrlich glücklich schätzen. Ach, wir könnten unsere gesamte Gesellschaft umgestalten. Mit Sicherheit wäre sie allemal bunter und interessanter als je zuvor. Beginnen wir mit uns selbst, in der Familie oder im Umgang mit unseren Freunden. Wie können Kindergärten, Schulen, die Arbeitswelt und nahezu alle bestehenden Beziehungsstrukturen anders gestaltet werden? Indem wir den Wettkampf rausnehmen und sie zum Wohle der Menschen gestalten. Wenn das Leben ein fließender Strom ist -warum verhalten wir uns wie ein Staudamm und wundern uns noch über hereinbrechende Probleme? Das laute Ticken der Uhr weckt mich aus meinem inneren Monolog. Ich sollte wiedermal rausgehen und frische Luft einatmen. Ich schließe die Haustür und frische klare Luft strömt in meine Lungen. Hin und wieder drückt das Leben schwer auf der Brust, dann wieder fühlt es sich leicht an wie eine Feder. Überhaupt, was weiß ich schon vom Leben? So bin ich doch nur Tänzer auf dem Seil des Lebens. Der Baum, den ich besuche, sieht ähnlich aus wie beim letzten Mal. Darin ähnelt er einem gewöhnlichen Tag im Jahreslauf. Obwohl Tag um Tag gleich wirkt, ist er es doch nie. Links neben dem Baum klebt ein Zettel: Wie schön, Dich erneut hier zu sehen. Ist es nicht seltsam, wie Menschen in der Natur Zuflucht suchen und wie sich ihr stürmisches Herz im Kontakt beruhigt? Ich bedauere, dass wir uns heute nicht persönlich begegnen, doch erwarte ich Dich morgen hier zur selben Uhrzeit. L. Nun dann, ich werde morgen wieder hier sein. Ich gehe schlafen. Von meinem Bett aus kann ich die Sterne sehen. Warum kommen sie mir viel vertrauter vor als viele der Menschen, die ich bisher traf? Ich mache mich auf den Weg. Unterwegs kommen mir Zweifel: Was tue ich hier eigentlich? Was ist, wenn ich mich einfach nur lächerlich mache? Ich warte genau 30 Minuten. Niemand kommt. Enttäuscht gehe ich heim. Bevor ich in meine Wohnung zurückkehre, öffne ich routinemäßig den Briefkasten. Tatsächlich findet sich ein Notizzettel von L. darin: Versprechungen Ist ein aus einem momentan erlebten Gefühl (welches durchaus länger andauern kann) heraus gegebenes Versprechen eine Lüge? Wenn man dieses nun nicht einhalten kann, weil sich die Bedingungen ändern (äußerlich und vielleicht innerlich), ist man dann ein Lügner? Wann macht ein nicht eingehaltenes Versprechen einen Menschen zu einem Lügner? Wir sollten wahrlich unsere Versprechen weise wählen, um nicht als Lügner zu gelten. Gibt es eigentlich auch gute Lügner? Nichtsdestotrotz: Tief in uns kennen wir die Wahrheit: Sind wir ein Lügner oder nicht? Ich beginne den Morgen mit dem obligatorischen Gang auf den Balkon. Von diesem aus beobachte ich die Menschen mit Taschen zur Straßenbahn eilen. Ganz so, als wäre das Leben ein Marathonlauf, doch was gibt es schon am Ende zu gewinnen? Den Großteil des Tages sind die Menschen damit beschäftigt, wie Ameisen ihrem Arbeitsalltag nachzugehen, der in vielen Fällen noch nicht einmal sinnvoll ist. Er ist sinnlos, weil viele Sachen gar nicht für ein Leben benötigt werden. (Billigmärkte, in denen billiger Plastikmüll verkauft wird – billig und ebenso kurzlebig oder Luxusartikel, die einfach der Statuspräsentation dienen oder mit denen man vorgaukeln kann, ein Genießer zu sein) Ich glaube, in der Tierwelt ist es auch nicht anders. So gibt es Paradiesvögel, die bestimmte Choreographien aufführen, um die potenzielle Sexpartnerin anschließend zu begatten. Warum denkt der Mensch nochmal, er würde sich so gravierend von den Tieren unterscheiden? Wie viel Arbeit steckt eigentlich in den eigens zur Statusanhebung dienenden Artikeln? Eigentlich ist es schade, um die Lebenszeit, die verschwendet wird. Wohin will man die ganzen Gegenstände am Ende mitnehmen? Manchmal träume ich davon, morgens aufzuwachen und die Welt wäre eine andere. Vielleicht existiert diese Welt nur in meinem Kopf, aber ich kann es nicht glauben. Wie oft habe ich auch von anderen Menschen von eben dieser Welt gelesen, sie in Bildern gesehen oder sie in Form von Musik gehört? Wenn die Motive auch gewiss nicht immer ähnlich sein mögen, so wäre es doch etwas Schönes, wenn die Verkünder dieser neuen Welt auch selbst nach ihren eigenen Maßstäben handeln täten. Wie kann diese Welt also geboren werden? Soll man andere Menschen von diesen Ideen überzeugen? Darf man das überhaupt? Möglicherweise hat auch alles seinen Grund, warum es hier so ist, wie es ist. Weil der Mensch so ist, wie er ist, sagt man. Aber wie genau ist der Mensch eigentlich? Gut oder schlecht oder gar beides zugleich? Wie bist Du eigentlich? Schau Dich selbst an, vielleicht erkennst Du es dann. Rudern auf dem Plastikmeer Sag, wo in all diesen Dingen findest Du Dich selbst? Pass auf, dass Du nicht ertrinkst, in diesem Meer aus bloßen Anhäufungen. Du sagst, Du willst die Welt verändern, doch ehe Du Dich versiehst, verändert die Welt Dich. Am Wegesrand entdecke ich eine purpurrote Schachbrettblume. Ich las einmal von einem Kalifen aus dem Orient, der laut einer Anekdote gesagt haben soll: „Schach ist nichts Unechtes. Es hat etwas mit Krieg zu tun.“ Das würde durchaus erklären, warum ich noch nie etwas mit Schach anfangen konnte. Der Einsatz strategischen Denkens des Sieges wegen liegt mir sehr fern. Der Einsatz meines Denkens zum Wohl eines anderen hingegen nicht. Während ich die Blume betrachte, spüre ich, dass ich nichts über L. weiß und dass ich auch nichts über das Leben weiß. Wie könnte ich mir von L. also überhaupt ein Bild machen? Existiert L. tatsächlich oder ist es nur ein Gedanke oder ein Gefühl in mir? Sind diese Gedanken am Ende Teil eines Bewusstseins, welches sich hin und wieder, wenn wir gerade empfänglich dafür sind, in unseren Kopf schleicht? Wer kann all diese Fragen schon mit ganzer Gewissheit beantworten? Wir wissen so wenig über das Leben und tun so, als wüssten wir nahezu alles. Ich spreche nicht ab, dass wir als Menschen einen Teil, den wir als Menschen erfahren, wissen können, jedoch niemals die Gesamtheit aller Dinge. Hin und wieder frage ich mich, was Erwachsene Kindern beibringen wollen. Sind sie nicht selbst einfache Schüler, die sich einer Lehrerrolle bemächtigt haben? Erwachsene sagen oft, dass Kinder etwas über den Ernst des Lebens lernen sollen, jedoch ist dieser Ernst oftmals nur ein von den Erwachsenen selbstproduziertes Netz aus künstlichen Konventionen und Verpflichtungen. Vielleicht haben die Erwachsenen sich eine Art Scheinwelt geschaffen, die nur deshalb existiert, weil sie daran glauben und weil sie nichts anderes kennen oder jemals kennengelernt haben. Von der Existenz dieser Scheinwelt müssen dann auch die Kinder überzeugt werden, damit sie weiter aufrechterhalten werden kann. Der Verlust der Scheinwelt bedeutet automatisch den Verlust der fiktiven Persönlichkeit der Erwachsenen, welche verlernten, im jeweiligen Moment zu leben und ständig mit irgendwelchen Hirngespinsten beschäftigt sind. Sie müssen eine Rolle erfüllen. Eine, die ihnen schon früh beigebracht wurde. Im Grunde ist die Welt eine gigantische Theaterbühne und viele Menschen wissen noch nicht einmal, was für grandiose Schauspieler sie sind. Manchmal, in seltenen und meist einsamen Momenten sehen sie ihren eigenen Marionettenfaden unscheinbar im Licht schimmern. Entweder ergreifen sie die Chance und entledigen sich ihren unsichtbaren Fesseln, befreien sich oder aber sie verdrängen und vergessen es wieder und verbringen den Rest ihres Lebens mit dieser Gegebenheit. Letztendlich verleugnen sie die Existenz dieser Fäden. Kinder, versunken in ihrem jeweiligen Spiel haben mehr Erfahrungen vom Leben, denn es gibt doch nicht mehr als diesen Moment, der gelebt werden will. So sind Kinder wahre Künstler auf dem Gebiet des Lebens und daher besteht ihr Gefühlsleben eben auch noch aus wahren Emotionen (vorausgesetzt, ein Erwachsener hat hier noch nicht hineingepfuscht), während es durchaus Erwachsene gibt, die diese im Extremfall nahezu verloren haben. Diese Leere, die in ihnen präsent ist, versuchen sie wiederum mit irgendetwas zu füllen und sich abzulenken. Nichtsdestotrotz stellen sich Erwachsene mit einer Selbstverständlichkeit hin und wollen Kindern etwas über das Leben lehren. Sollten sie jedoch nicht selbst davon probieren, statt nur zu reden? Glücklicherweise gibt es auch sanftmütige, weise Menschen. Diese sind selbstverständlich von den obigen Beschreibungen ihrer polternden Artgenossen ausgenommen. Wenn ihr etwas über den Ernst des Lebens lehren wollt, dann lernt erst einmal etwas über den Sinn des Lebens. Niemand möchte von einem Amateur unterrichtet werden. Unfrei in einer freien Welt Die Welt ist frei Warum habt ihr sie begrenzt? Durch unsichtbare Mauern In Köpfen und auf Karten? Die Welt kann bunt sein Gleich einem Paradiesvogel So ist sie doch nur Einen Flügelschlag weit entfernt Und Deine Fantasie kann uns näher Dorthin bringen Wann endlich wird die Welt geboren, Die schon immer In Dir steckt? Als ich am nächsten Morgen aufwache, weiß ich nicht: Ist L. eine Person oder eine Illusion? Ein Gefühl, ein Gedanke, den irgendwann einmal jeder von uns hat?