Der eine oder andere hat es vielleicht mitbekommen... gerade ist Fußball-WM. Aber aus deutscher Sicht war Fußball dabei wirklich nur ganz am Rand ein Thema.
Eigentlich ging es hauptsächlich um Menschenrechte, um Ausbeutung von Gastarbeitern in Katar, um Regenbogen-Armbinden und sonstige Solidaritätsbekundungen und Symbolhandlungen.
Katar und die FIFA waren das neue Feindbild der Medien, und es gab eigentlich außer Uli Hoeneß in der öffentlichen Wahrnehmung so gut wie niemanden, der die Skrupellosigkeit (oder die Eier) hatte, die homophoben Kamelfic... äh Kamelbesitzer und mafiösen FIFA-Verantwortlichen zu verteidigen.
Also alle waren sich im Grunde einig, dass sie diese WM nicht haben wollen.
Wenn man sich aber dann mal anschaut, wie begeistert z.B. die argentinischen oder brasilianischen Fans ihre Mannschaft anfeuern und ihren Spielern huldigen (nämlich so wie immer eben)... da könnte man schon den Eindruck bekommen, dass deren Wahrnehmung sich sehr von der deutschen Wahrnehmung unterscheidet. Denen geht es tatsächlich in erster Linie um den Fußball. Und vermutlich werden auch deren Medien ganz anders darüber berichten als die deutschen Medien. Genaugenommen dürfte Deutschland zusammen mit Dänemark und ein paar anderen europäischen Ländern in dieser Sache wohl eher in der Minderheit sein.
Und ich frage mich, bei aller Verachtung gegenüber dem korrupten Scheißhaufen FIFA und den rückständigen Mohammedanern... muss denn wirklich alles heutzutage so dermaßen politisch aufgeladen sein?
Gibt es keinen einzigen Safe Space mehr, in dem man vor Politik, aufdringlichen Botschaften und selbsternannten Moralwächtern geschützt ist? Ok, vielleicht noch im Musikantenstadl... aber ansonsten scheint die Gesellschaft nur noch eine Bühne zu sein, auf der politische Aktivisten jedem, der es nicht wissen will, ihre gutgemeinten Botschaften ins Gehirn meißeln.
Wie gesagt, ich halte die Kritik an sich für völlig berechtigt.
Nur... ist sie wirklich aufrichtig? Ist es aufrichtig, wenn Deutschland jetzt Weltgewissen spielt und mit dem Finger ständig auf die bösen Russen oder die bösen Katarer zeigt, während hierzulande immer mehr Kinder psychisch erkranken, weil sie die Scheiße in diesem Land, den Druck und das zwischenmenschliche Klima hier einfach nicht mehr aushalten?
Ist es aufrichtig, die Behandlung von Gastarbeitern am anderen Ende der Welt zu kritisieren, während hierzulande immer noch kein bedigungsloses Grundeinkommen eingeführt wurde, weil eine Mehrheit der Bundesbürger davon überzeugt ist, dass ohne Existenzdruck keiner mehr die Drecksarbeit machen würde?
Ist es aufrichtig, mit den Katarern zu schimpfen, weil sie Homosexualität als unmoralisch betrachten, während hierzulande die Knäste gefüllt sind mit Menschen, die nichts getan haben außer Drogen zu verkaufen oder zu konsumieren, was nunmal in unserer Kultur als unmoralisch gilt?
Ist es aufrichtig, das alles zu kritisieren, sich als das große Weltgewissen zu inszenieren, und dann zwischendurch im großen Stil bei den homophoben Ausbeutern Gas zu bestellen?
Ich habe keine Antworten an dieser Stelle. Ich stelle nur Fragen.
Findet ihr, dass es Zeichen unseres kulturellen Fortschritts ist, dass sich die Menschen in Deutschland so viele Gedanken über die Menschenrechte in anderen Ländern machen?
Ist es vielleicht sogar der einzig richtige Weg, wie es jemals besser werden kann, wenn man all diese Dinge anspricht und kritisiert, und gegebenenfalls auch unmoralische Länder/Unternehmen, etc. boykottiert?
Oder ist es nicht eher ein reines Wohlstandsphänomen, dass Menschen, denen es materiell zu gut geht und die zu viel Zeit haben, anfangen, Weltverbesserer zu spielen, während Menschen mit existenziellen Problemen ganz andere Sorgen haben und gar nicht auf die Idee kämen, sich über solche Dinge den Kopf zu zerbrechen?
Oder könnte man vielleicht sogar sagen, speziell in Deutschland haben das Dritte Reich und die darauf folgende, generationenübergreifende Aufarbeitung und Schuldgefühle ein Trauma ausgelöst, weshalb die Deutschen nun meinen, besonders heilig, engagiert und minderheitenfreundlich sein zu müssen?