Heißer Herbst

  • Insofern finde ich es es schon recht dreist, sich vom weitestgehend sicheren Deutschland aus anzumaßen, das Handeln oder Nichthandeln von Menschen in Diktaturen zu bewerten.

    Das war ja jetzt nicht im Sinne einer Kritik an den Menschen dort gemeint, sondern einfach als sachliche Feststellung der Tatsache, dass in vielen Ländern Revolutionen längst überfällig scheinen, aber einfach nichts passiert.

    Wenn ich in so einem Land leben würde, würde ich vermutlich auch nicht mein Leben riskieren im Kampf gegen einen übermächtigen Feind. Ich würde aber vermutlich auch nicht dort bleiben wollen, sondern Asyl beantragen und nach Deutschland kommen (und dann vielleicht auch dort für Freiheit in meinem Heimatland demonstrieren, wer weiß. Oder eben über das Internet meinen Beitrag leisten, damit sich in meiner Heimat etwas ändert.)

    Konkret habe ich bei Ländern wie dem Iran aber wenig Hoffnung, siehe Afghanistan. Je länger die Menschen unter solchen Umständen leben, umso selbstverständlicher gehen den meisten diese falschen Werte in Fleisch und Blut über, und die kriegst du da dann kaum noch raus.

    Deutschland war ja "nur" 12 Jahre lang von den Nazis beherrscht, und selbst diese Zeitspanne hat schon gereicht, dass viele dieses Denken ihr Leben lang nicht mehr aus dem Kopf gekriegt haben. Von daher sehe ich da eher schwarz für die Zukunft, selbst wenn es irgendwann eine Revolution geben sollte... es wird ja in solchen Ländern aller Erfahrung nach doch nie wirklich demokratisch danach.

    Die Frage, wieso Menschen sich nach autoritären Führern und Systemen sehnen oder sich zumindest mit diesen wohlwollend arrangieren, ist das eigentliche Problem.

    Das Problem ist, dass diese Zeiten zynisch machen, und Zynismus lässt die Nadel eher nach rechts ausschlagen.

    Nicht nur diese Zeiten... vielleicht ist es einfach so, dass das Erwachsenwerden zynisch macht, weil man zu oft enttäuscht wurde, sich zu oft selbst verbiegen musste, und sich irgendwann in einem Leben wiederfindet, das man eigentlich nie haben wollte, aber das man jetzt eben mögen muss, weil es ja das einzige Leben ist, das man hat.

    So jemandem brauchst du dann nichts von "Solidarität mit den Schwachen und Entrechteten" erzählen. Da greifen Parolen wie "Die Schwachen und Entrechteten haben sich zusammengetan, um dir dein Land und deine Frau zu rauben" vermutlich eher. Weil es halt auch mehr die eigenen Erfahrungswerte dieser Menschen widerspiegelt, dass man um seinen Platz am Futtertrog kämpfen muss, und dass einen unrealistische, naive Träume nirgendwo hin bringen.

  • Ich kann bzw. will nicht bewerten, ob die Veränderung in einem Land wie Afghanistan deshalb nicht möglich war, weil große Tele der Bevölkerung 'falsche Werte' verinnerlicht haben, oder weil die Taliban schlichtweg eine hochmotivierte, kampferfahrene Konstante waren, die vielleicht eine Minderheit darstellt, die aber dennoch letztlich den längeren Atem hatte. Die progressiven Kräfte haben sich 20 Jahre auf den Westen verlassen und konnten ohne den militärischen Schutz der USA nicht überleben. Die Lehre, die ich aus Afghanistan ziehe, ist jedenfalls, dass immer die Wehrhaftigkeit gegeben sein muss, bevor man sich Gedanken über den Sieg der eigenen Ideale macht. Wie es im Falle Iran aussieht, kann ich noch weniger bewerten, da fehlen mir die Informationen über Art und Form des Widerstands. In Bezug auf Russland sind zwar Umfragen in der dortigen Bevölkerung nicht unbedingt aussagekräftig ('Immer daran denken, Putin am Telefon zu loben', wie russische Bekannte es formulieren, wenn sie mal in der alten Heimat anrufen), und ich habe auch schon deutlich kritische Stimmen auf russischen Kanälen vernommen, aber der Rückhalt für Putins Regime ist eben aufgrund eines jahrzehntelang kultivierten politischen Zynismus, gepaart mit Resten der Sehnsucht nach dem Sowjetreich, in der russischen Bevölkerung so groß, dass ich mir keine Hoffnungen auf eine Veränderung von innen machen würde.

    Die einzige vage Hoffnung für die etwas fernere Zukunft ist die junge Generation weltweit, der ich schon attestieren würde, zumindest bewusster und politisierter zu sein, als es noch bei Generation y der Fall war.