Antipädagogik

  • Was haltet ihr vom System der Antipädagogik?
    Würdet ihr sie als Sinnvoll erachten?


    Als Antipädagogik wird Philosophie bezeichnet, nach der Kinder und Jugendliche durch Erziehung auf unzulässige Weise entmündigt und manipuliert werden, und zwar unabhängig von der Art der Erziehung.
    Das Konzept der Antipädagogik bezieht seine Grundlagen vom Anarchismus, der Antipsychiatrie, der Kinderrechtebewegung und dem Philosophen Max Stirner. Stirner beschreibt in seiner Schrift „Das unwahre Prinzip unserer Erziehung“ von 1942 die Entfremdung des Kindes von den eigenen Gefühlen durch die moralisierende Erziehung. Eine Abschaffung der Pädagogik lag Stirner dabei fern, seine Absicht war von der Zurückdrängung des moralischen Einflusses der Erziehung bestimmt. Die anarchistischen Theoretiker Erich Mühsam, Pierre-Joseph Proudhon und William Godwin forderten die herrschaftsfreie Erziehung, der Anarchist Walther Borgius gar die Ablehnung jeder Form der Pädagogik.



    Also, was sagt ihr dazu?


  • Man ist als Mensch nun mal kein reines Individuum. Und ich habe das gefühl je mehr man sich mit dem Thema beschäfftigt desto mehr merkt man, das man als Mensch uneigenständiger ist und viele eigenschafften eigentlich nur ein Kontext von anderen sachen sind. Ich halte sowas für eine Illusion, das es sowas gibt, da sie ein Individuum vorraus setzt. Damit mit meine ich jetzt nicht das es kein Individuum gibt, aber ein großer teil eines Individuum ist ein teil des Systhems in dem wir leben, da sie dadurch erst ihre bedeutung gewinnen.

  • Dass Kinder von ihren Eltern oder allgemein von Menschen mit mehr Lebenserfahrung lernen, finde ich im Prinzip nicht verkehrt. Denn bei vielen Tieren ist das ja nicht anders. Die Grundidee dahinter ist wohl, dass man sich das notwendige Wissen über erfolgreiche Verhaltensstrategien auf diese Weise am schnellsten aneignet und am besten überlebt.
    Wiki nennt als Beispiel:

    Zitat

    Adult killer whales (Orcinus orca) teach the predatory technique of “stranding” to their young.[32]

    (Quelle)
    Menschenkinder sind ja allgemein neugierig und wollen viel über die Welt, in der sie leben, erfahren. Ich denke, es ist nicht falsch, wenn die Eltern oder andere Erwachsene da eine gewisse Hilfestellung bieten. Ob man nun aktiv mit irgendwelchen Psycho-Tricks ein gewünschtes Verhalten der Kinder anerziehen sollte, da bin ich auch eher skeptisch. Ich denke, in vielen Fällen reicht es, einfach ein gutes Vorbild zu sein. Ist zumindest meine geplante Strategie für den Umgang mit dem noch nicht existierenden Nachwuchs.

  • Dass Kinder von ihren Eltern oder allgemein von Menschen mit mehr Lebenserfahrung lernen, finde ich im Prinzip nicht verkehrt

    Ich glaube auch nicht, dass irgendein ernsthafter anarchistischer Pädagoge dies jemals anzweifeln würde. ;)
    Es geht ja nicht darum, Kinder sich selbst zu überlassen, und auch nicht darum, ihnen alles durchgehen zu lassen, wie das Klischee von der "antiautoritären Erziehung" immer so gern in der Öffentlichkeit dargestellt wird... dass die Kinder dann mit ihrer eigenen Scheiße um sich schmeißen und alles kaputtschlagen, und die alternativen Eltern danebenstehen und sich ganz doll freuen, weil sich ihr Nachwuchs so wunderbar selbstverwirklichen kann.
    In der Natur wird der kleine Fuchs, wenn er auf die Vorräte pisst oder seinem Umfeld zu sehr auf die Nerven geht, von der alten Füchsin auch mal am Kragen gepackt und durchgeschüttelt, damit er wieder zur Vernunft kommt.
    Also "anarchistische Pädagogik" heißt für mich nicht, jedes noch so kleine Kind wie einen Erwachsenen zu behandeln, weil das überhaupt nicht funktionieren kann, und weil man dem Kind damit auch keinen Gefallen tut, wenn man von ihm Dinge wie abstraktes Denken oder das Begreifen von Zusammenhängen erwartet, die es von seiner Entwicklungsphase her einfach noch nicht zu leisten vermag. Ständige Überforderung macht dich genauso plemmplemm wie ständige Unterforderung.


    Wo man hingegen aus anarchistischer Sicht sehr wohl ansetzen muss, sind beispielsweise irgendwelche Regeln, die nur deshalb aufgestellt werden, damit das Kind lernt, sich an Regeln zu gewöhnen oder den Ordnungs- und Geschmacksvorstellungen der Erwachsenen gerecht zu werden.
    Klassisches Beispiel: Zimmer aufräumen. Da wird gerne versucht, den Kindern einen Ordnungsbegriff überzustülpen, der nicht auf natürlicher Einsicht des Kindes gewachsen ist, sondern einfach "weil sich das eben so gehört". Ich hab in meinem Zimmer damals, wenn es manchmal nicht so ordentlich war, trotzdem immer gewusst, unter welchem Spielzeughaufen ich was deponiert habe. Und als ich dann irgendwann gemerkt habe, dass die guten Comichefte nach ein paar Wochen kaputt sind, wenn ich sie einfach nur irgendwo hinschmeiße, bin ich irgendwann von ganz alleine zu der Erkenntnis gelangt, dass ich sie besser ordentlich in einem Regal ablege, wenn ich auch morgen noch was davon haben möchte.
    Dafür brauche ich keine Eltern, die mir Hausarrest geben, so lange mein Zimmer nicht aufgeräumt ist, oder ähnlichen Quatsch.


    Oder die Sache mit dem Zubett-Gehen... ohne Ausnahme immer zur selben Uhrzeit. Halte ich für ziemlich bedenklichen Quatsch. Kinder brauchen ihren Schlaf, keine Frage... aber vielleicht bräuchten sie auch manchmal eine komplett durchgemachte Nacht und dann einen müden darauffolgenden Tag, um neue Erkenntnisse über sich selbst zu gewinnen. Hier geht es ja letztlich mehr darum, den Kindern unter dem Vorwand "feste Einschlafzeiten sind nur zu deinem Besten" den Lebensrhythmus der sogenannten "zivilisierten Welt" aufzuzwingen. Und die Eltern wollen halt (verständlicherweise) auch mal ihre Ruhe haben. Kann ich ja verstehen. Ist trotzdem etwas, über das zumindest mal diskutiert werden sollte.


    Und der größte und wichtigste Punkt, den man ansprechen muss, ist natürlich das Schulsystem. Dass Notendruck und Leistungszwang etc. extrem un-anarchistisch ist und auch mehr psychisch bei den Kindern kaputt macht, als es ihnen bei ihrer Entwicklung hilft, darauf muss ich hier an dieser Stelle denke ich nicht mehr besonders eingehen. Das sollte eigentlich allen klar sein.
    Aber interessant finde ich beispielsweise die Frage, ob nicht auch diese gesamte künstlich geschaffene Lern-Umgebung, in der Kinder heutzutage aufwachsen, diese regelrechte Bildungs-Industrie, nicht schon eine Fehlentwicklung darstellt (auch wenn es ohne Notendruck etc. ablaufen sollte)
    Warum glaubt man, dass es für die Entwicklung junger Menschen am besten ist, wenn man sie mit 20 anderen unreifen jungen Menschen zusammensteckt, und dann von einem oder zwei fremden Erwachsenen betreuen lässt?
    Ist das wirklich das pädagogisch sinnvollste Umfeld, um zu lernen und zu reifen, oder ist dieses ganze Kindergarten- und Schulsystem nicht nur aus Bequemlichkeit entstanden, weil die Eltern ihren Nachwuchs nicht mehr an der Backe haben wollten?
    In früheren Zeiten wurden Kinder deutlich stärker in die Welt der Erwachsenen mit einbezogen, und haben allein durch Zuschauen und Nachahmen schon vieles gelernt. Sie haben auf dem Feld mitgeholfen und sind ab einem gewissen Alter mit auf die Jagd genommen worden, und vermutlich haben sie auch der Mutter beim Kochen zugesehen oder sogar mitgeholfen.
    Damit will ich jetzt nicht zur Kinderarbeit aufrufen... aber die Frage muss gestattet sein, ob es nicht eigentlich Unsinn ist, Kinder auf die reale Welt vorzubereiten, indem man sie erstmal zehn oder fünfzehn Jahre von dieser konsequent fernhält und lieber von morgens bis abends in irgendwelchen Bildungsfabriken wegschließt.
    DAS sind für mich Fragen, die aus anarchistischer Sicht an die heutige Gesellschaft gestellt gehören.

  • Ich glaube auch nicht, dass irgendein ernsthafter anarchistischer Pädagoge dies jemals anzweifeln würde. ;) Es geht ja nicht darum, Kinder sich selbst zu überlassen, und auch nicht darum, ihnen alles durchgehen zu lassen, wie das Klischee von der "antiautoritären Erziehung" immer so gern in der Öffentlichkeit dargestellt wird... dass die Kinder dann mit ihrer eigenen Scheiße um sich schmeißen und alles kaputtschlagen, und die alternativen Eltern danebenstehen und sich ganz doll freuen, weil sich ihr Nachwuchs so wunderbar selbstverwirklichen kann.
    In der Natur wird der kleine Fuchs, wenn er auf die Vorräte pisst oder seinem Umfeld zu sehr auf die Nerven geht, von der alten Füchsin auch mal am Kragen gepackt und durchgeschüttelt, damit er wieder zur Vernunft kommt.

    Ich war mir nicht sicher, was gemeint war, weil ich auf Wiki gelesen hatte:


    Zitat

    Die Antipädagogik in den 1970er Jahren
    1975 erschien in Deutschland Ekkehard von Braunmühls Buch Antipädagogik, das als theoretisches Hauptwerk dieser Lehre gilt.[14] Zu den Axiomen der Antipädagogik zählt die Annahme, dass der Mensch nicht von Vernunft, sondern von Gefühlen und Intuition gesteuert wird. Diese stehen ihm von Geburt an zu Gebote und brauchen nicht durch Erziehung geformt zu werden. Dass Eltern auf ihr Kind erzieherischen Einfluss nehmen, sei infolgedessen unnötig. Kinder seien von Geburt an in der Lage zu beurteilen, was gut für sie ist, und sollten darum in ihren wirtschaftlichen, sozialen und politischen Rechten den Erwachsenen gleichgestellt werden. Erziehung hindere das Kind nicht nur daran, sein wahres Selbst auszudrücken, sondern verändere seine Persönlichkeit zu seinem Nachteil und respektiere nicht seine Würde, Freiheit und Autonomie. Neben der Familie sei es vor allem die Schule ‒ der Ort, an dem Ideologie eingeprägt und die herrschende Kultur aufrechterhalten werde ‒, die dem Kind schade und darum durch Unschooling ersetzt werden müsse.[4]

    (Quelle)
    Der letzte Satz ist ja ganz vernünftig, aber durch den Rest fühlte ich mich zu dieser der zitierten Aussage genötigt. ;) Den potentiellen praktischen Nutzen des sozialen Lernens scheint mir Braunmühl doch ein wenig zu sehr unter den Teppich zu kehren, wenn die Darstellung bei Wiki stimmt. Ansonsten möchte ich dein Plädoyer für eine Erziehung, die sich an der "wahren Welt" orientiert (wie es wohl von der Natur/Evolution auch ursprünglich gedacht war), sehr unterstützen.

  • Zitat

    Dass Eltern auf ihr Kind erzieherischen Einfluss nehmen, sei infolgedessen unnötig.

    Die Frage ist halt, was genau da jetzt unter "Erziehung" verstanden wird...
    Dem Kind zu erklären, warum es nicht ok ist, das Spielzeug eines anderen zu zerstören?
    Dem Kind zu sagen, dass es seine Zähne putzen soll?
    Ich bin mir nicht so sicher, ob das den Menschen wirklich schon angeboren ist, dass sie solche Dinge instinktiv begreifen, ohne dass man darauf "erzieherischen" Einfluss nimmt.
    Oder ob kleine Kinder nicht doch eher ziemlich doof sind in vielerlei Hinsicht.
    Mich erinnern die von ihrem Verhalten schon meistens eher an dumme Hunde als an erwachsene Menschen (ist jetzt nicht negativ gemeint... ich mag Hunde!) Trotzdem musste ich für meine Hunde immer mitdenken, damit sie nicht ins nächste Auto rennen oder sonst irgendeinen Blödsinn machen, weil sie einfach nicht in der Lage waren, Gefahren und Konsequenzen einzuschätzen. Und zumindest meiner Beobachtung nach schenken sich kleine Kinder und Hunde vom Dummheits- und Nervigkeitsfaktor nicht viel.
    Aber vielleicht liegt das ja auch nur daran, dass ich nicht so der Kinderfreund bin... :D


    Jedenfalls, wenn Antipädagogik bedeuten sollte, dass man Kindern garnichts mehr beibringt, sondern sie einfach intuitiv leben lässt und dann schaut, was dabei herauskommt, dann halte ich das für ziemlichen Bullshit. Kann mir aber kaum vorstellen, dass das ernsthaft so in diesem Sinne gemeint ist...

  • Die Wissen- und Fähigkeitenvermittlung durch Unschooling ist halt stark davon abhängig, wie gut die Eltern beim Lernen helfen können und wollen. Wenn man willige, kompetente Eltern und wissbegierige, motivierte Kinder voraussetzt, dann könnte das schon funktionieren. Wobei ein etwaiges Scheitern da vielleicht auch eher auf die Erwachsenen zurückzuführen ist. Kinder sind ja in der Regel schon ziemlich neugierig.
    Dass man in den Augen der Antipädagogik allerdings auch nicht sagen darf, dass es nicht gut ist, immer nur Bonbons zu essen zu Cola zu trinken, weil das Kind ja intuitiv schon weiß, was gut ist, und das beim Exzess auch nicht beschränken darf, fände ich schon etwas extrem. Ich habe aber kein Buch aus dem Bereich der Antipädagogik gelesen und weiß deshalb nicht aus erster Hand, wie die Autoren so ticken. Deshalb kann ich dir auch nicht sagen, was sie genau unter Erziehung oder Pädagogik verstehen.
    Insgesamt finde ich die Frage, wieviel Machtgefälle in einer Eltern-Kind-Beziehung sein muss, aber schon berechtigt. Wenn es von Anfang an auf Augenhöhe funktionieren würde, wäre das sicherlich ideal, aber so recht will ich momentan noch nicht daran glauben. So flach wie möglich wäre da in Bezug auf das Machtgefälle meine persönliche Richtlinie.

  • Jedenfalls, wenn Antipädagogik bedeuten sollte, dass man Kindern garnichts mehr beibringt, sondern sie einfach intuitiv leben lässt und dann schaut, was dabei herauskommt, dann halte ich das für ziemlichen Bullshit.

    Nein... Also, es gibt bestimmt irgendwelche Fanatiker, die so eine klischee-anti-autoritäre Erziehung wirklich durchziehen, aber ich glaube nicht, dass die "Begründer" der Anti-Pädagogik so etwas vorgesehen haben.


    Schließe mich aber euren Beiträgen an @Dian , @Zitterbart

  • Ich finde Antipädagogik sehr sympathisch. Meist erziehen die Eltern ja ihre Kinder nach ihrem eigenen Erziehungsverständnis und unterdrücken dabei häufig die Persönlichkeit des Kindes. Damit meine ich so abstrakte Regeln, die eigentlich keinen Sinn machen und auch gar nicht hinterfragt werden, einfach weil "es eben so ist oder es sich nicht gehört". Witzig finde ich auch, wenn Eltern Regeln aufstellen, an die sie sich selbst nicht halten.Viele Eltern passen ihre Kinder auch an den bestehenden Leistungszwang an oder vermitteln eine fragwürdige Arbeitsmoral. Ich gehe davon aus, dass mein Kind eine eigenständige Person ist.Das heißt aber nicht, dass ich Kinder Gefahrensituationen aussetze. Antipädagogik bedeutet für mich, dass mensch Kinder ernst nimmt und sie nicht in vorgefertigte Formen presst. Mitunter sind Kinder nämlich sogar viel intelligenter als Erwachsene.

    Einmal editiert, zuletzt von Hundertwasser ()

  • Ich finde Antipädagogik sehr sympathisch. Meist erziehen die Eltern ja ihre Kinder nach ihrem eigenen Erziehungsverständnis und unterdrücken dabei häufig die Persönlichkeit des Kindes. Damit meine ich so abstrakte Regeln, die eigentlich keinen Sinn machen und auch gar nicht hinterfragt werden, einfach weil "es eben so ist oder es sich nicht gehört". Witzig finde ich auch, wenn Eltern Regeln aufstellen, an die sie sich selbst nicht halten.Viele Eltern passen ihre Kinder auch an den bestehenden Leistungszwang an oder vermitteln eine fragwürdige Arbeitsmoral. Ich gehe davon aus, dass mein Kind eine eigenständige Person ist.Das heißt aber nicht, dass ich Kinder Gefahrensituationen aussetze. Antipädagogik bedeutet für mich, dass mensch Kinder ernst nimmt und sie nicht in vorgefertigte Formen presst. Mitunter sind Kinder nämlich sogar viel intelligenter als Erwachsene.


    Weitgehende Zustimmung.


    Das eigene Erziehungsverständnis kommt dann in der Regel von den eigenen Eltern bzw. aus der eigenen Kindheit, wenn darüber nicht ausgiebig reflektiert wurde. Wer als unterdrücktes Kind großgeworden ist, läuft da mE besonders Gefahr, selbst zum Unterdrücker seines Kindes zu werden - weil er/sie es halt so gelernt hat. Das sind halt so Mechanismen, über die öffentlich viel zu wenig nachgedacht und aufgeklärt wird. Wenn man eine stabile Anarchie erschaffen möchte, dann müssen auch solche Psychotricks, die Kindern vom frühesten Alter suggerieren, dass ein Machtgefälle etwas Natürliches ist, weitgehend ausgeschaltet werden. Ansonsten pflanzt sich das über Generationen fort und endet wohl früher oder später wieder im Kollaps der Anarchie.