Menschenbild und Gesellschaftsform

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    Ausgegliedert aus dem Thread Die weiße Rose und der Nationalsozialismus, damit es dort nicht zu off-topic wird:

    Ein wichtiger Punkt, auf den hin man auch sich selbst immer überprüfen sollte: Der faschistische Rechtsphilosoph Carl Schmitt hat die Auffassung vertreten, dass alle 'echten' (also seiner Vorstellung entsprechenden) politischen Theorien immer von einem 'schlechten' Menschen ausgehen. Er bezog sich auch auf den absolutistischen Philosophen Thomas Hobbes: 'Der Mensch ist dem Menschen ein Wolf' , was bedeutet, dass es einen absolutistischen Herrscher braucht, der darüber wacht, dass sich die Menschen in der Gesellschaft nicht die Köpfe einschlagen. In der modernen Auffassung Schmitts ist das der autoritäre Staat.


    Es fällt auch auf, dass viele pessimistische Denker und Dichter mit solchen autoritären Gesellschaftsauffassungen sympathisiert haben. Ich erwähne das deshalb, da auch hier in der Unity oft eine starke Tendenz hin zu einer sehr negativen Auffassung von Gesellschaft vertreten wird. Wer aber die Menschen für dumm, egoistisch, 'Lemminge' etc. hält, wird womöglich in der praktischen Umsetzung nicht unbedingt zu einer Gesellschaftsform kommen, die besser oder freier ist als die bestehende. Zumindest nicht, wenn die Auffassung vertreten wird, dass die 'Schlechtigkeit des Menschen' für die Verhältnisse verantwortlich ist, und nicht etwa die Institutionen, die erst solche Menschen hervorbringen. Das ist tatsächlich ein großer Unterschied zwischen 'rechten' und 'linken' bzw. 'anarchistischen' Ideen. Wenn das Vertrauen in die Menschen schwindet und der Zynismus siegt, ist man vielleicht besser damit beraten, von der 'Weltverbesserung' abzusehen und zunächst lieber an sich selbst und der Art und Weise, wie man mit seiner Umwelt umgeht bzw. diese wahrnimmt, zu arbeiten.

    Eine jede autoritär strukturierte Gesellschaft (und dazu zähle ich ausdrücklich auch die heutige, angeblich "demokratische") braucht natürlich eine Rechtfertigung dafür, wieso manche Menschen in ihr mehr Macht und Entscheidungsgewalt haben als andere.
    Ich fände es ja sogar aufrichtig und ehrlich, wenn sie sich dann wenigstens vor ihr Volk hinstellen und ganz offen sagen würden: "Wir halten euch für blöd (oder für wilde Tiere), und deshalb müssen wir in eurem Namen für euch regieren."
    Aber so wirklich zugeben tun das ja die wenigsten. In der heutigen Zeit schonmal gar nicht. Das konnte man vielleicht noch zu Zeiten des Absolutismus machen.
    Heute ist die offizielle Lehrmeinung zu dem Thema doch eher die, dass der Mensch ein ziemlich unmündiges, leicht beeinflussbares, aber eigentlich gutes Wesen ist, und daher vor negativen Einflüssen beschützt werden muss. Man geht offiziell auch nicht von einem schlechten Menschen aus, sondern davon, dass einige wenige schlechte Menschen genügen, um überall Chaos und Unruhe zu stiften, so dass man diese Menschen durch Zwang dazu bringen muss, die Regeln einzuhalten.
    Sieht man ja auch daran, wie aktuell die Corona-Maßnahmen begründet werden. Der Staat sagt nicht: "Ihr seid alle Vollidioten, weil ihr nicht freiwillig auf uns hört, und deshalb müssen wir euch jetzt durch Strafen zu eurem Glück zwingen." Sondern man sagt eher sowas wie: "Leider gibt es einige unter euch, die sich nicht freiwillig an unsere Regeln halten, und deshalb machen wir jetzt strengere Maßnahmen, um die vernünftigen Menschen vor diesen verantwortungslosen Asozialen zu schützen."
    Haben die Nazis es wirklich so viel anders gemacht? Hatten die ein grundsätzlich negatives Menschenbild?
    Genaugenommen haben sie das deutsche Volk doch für wertvoller gehalten als andere Völker, und somit ihre Herrschaft auch dadurch legitimiert, dass man die (deutschen) Menschen vor den negativen, fremden Einflüssen schützen muss. Aber dass der Deutsche an sich edel und gut ist, und nur von Juden oder anderen minderwertigen Gruppen verdorben wird, daran haben sie doch eigentlich kaum einen Zweifel gelassen.
    So gesehen ist das Menschenbild, mit dem die meisten modernen autoritären Gesellschaften ihr System rechtfertigen, doch eher "Die Mehrheit der Menschen ist gut, aber eine Minderheit (oder eine böse Macht von außerhalb) ist schlecht, und deshalb müssen wir die gute Mehrheit durch Zwangsmaßnahmen schützen und bewahren"


    Ich sehe jetzt nicht so sehr einen Zusammenhang zwischen pessimistischem Menschenbild und einer Neigung zu autoritären Positionen. Jedenfalls nicht, wenn man es mal rein logisch zu Ende denkt. Wenn man konsequent davon ausgeht, dass der Mensch von Grund auf schlecht (oder blöd) ist, dann muss man ja auch davon ausgehen, dass er durch seine Verdorbenheit jedes System korrumpiert, und dass sich auch bei jedem noch so demokratischen Auswahlprozess nicht die geeignetsten Kandidaten durchsetzen werden, sondern immer die skrupellosesten und falschesten, die das Dummvolk am besten manipulieren können.
    Und der Versuch, durch Bildung und harte Selektion eine Elite heranzuzüchten, die dann reifer ist als andere und dadurch die besseren Entscheidungen trifft, hat in der Vergangenheit meist auch nicht besonders gut funktioniert, sondern immer nur noch mehr Korruption und noch schlimmere Katastrophen hervorgebracht. Daher würde ich eher sagen: Wer die Geschichte der Menschheit kennt, hat vielleicht gute Gründe, zum Misanthropen zu werden... aber er kann eigentlich nicht ernsthaft daran glauben, dass es zu etwas Gutem führt, Menschen Macht über andere Menschen zu geben.

  • Grundsätzlich ist es nichts Schlechtes, einige Dinge unter sich zu regeln, doch sobald da ein hochmütiger Herrscher kommt und meint, sich über das Volk stellen zu müssen, hat der doch sicherlich seine Bedenken über die „große Mehrheit”. (Hier mal ganz abgesehen von den Kapitalisten und machtgierigen Affen, welche es nicht den Menschen zu Gute machen. :D ) Dass es dann auf Dauer auch nicht die beste Lösung ist, erkennen wir an der Geschichte ... und doch soll es dann angeblich unumgänglich sein?!
    Jedenfalls würde ich den Fakt bestreiten, dass die Menschheit schlussendlich dumm ist. Vielleicht ist es doch das Produkt der gnadenlos erzwungenen Anpassung und Unterwerfung, sobald man in die staatlichen Bildungs- und Erziehungseinrichtungen deportiert wird. Zeitgleich wurden diese von den „bösen Herrschern” erschaffen, welchen es heutzutage dann doch eher um die Macht, das Geld und die Kontrolle geht. Die Frage ist: Wollen sie denn ein dummes Volk? Ich schätze schon, irgendwer muss doch die Drecksarbeit für die Leute an der Machtspitze erledigen ...
    Den Zusammenhang zwischen einem negativen Menschenbild und der Neigung zur Macht kann ich also nur bedingt bestätigen.
    Sicherlich gäbe es da bessere Lösungen.


  • Zum letzten Punkt würde jemand wie Hobbes wohl sagen, dass ein brutaler und korrupter Alleinherrscher immer noch besser ist als der Kriegszustand, der laut ihm sonst herrschen würde. Übertragen auf die heutige Außenpolitik ist ja zu sehen, dass das Kuscheln mit Despoten eine gängige Praxis ist, solange diese Stabilität versprechen. Insofern würde ich persönlich dir natürlich zustimmen - gerade weil Menschen 'problematisch' sind, sollte man die Macht, die sie über andere ausüben können, eher reduzieren. Nur ist die umgekehrte Schlussfolgerung leider auch recht nachvollziehbar: 'Problematische' Menschen müssen beherrscht werden. Hier geht es meines Erachtens auch nicht um die 'Ausreißer', mit denen jede Gesellschaftsform - auch anarchistische - umgehen müssen, sondern um die Gesellschaft als Ganzes. Die ganze Art, wie mit Erwerbslosen umgegangen wird und die sture Ablehnung eines Grundeinkommens wird u. a. genau mit diesem pessimistischen Menschenbild verteidigt, wonach Menschen gegängelt werden müssen, damit sie Leistung erbringen. Der Kapitalismus fußt natürlich auf einer ideologischen Grundlage, die Mangel und Konkurrenzkampf vorherrschen sieht.


    Ansonsten beschreibst du recht gut die Art der Herrschaftslegitimation der modernen Systeme, die hinsichtlich ihrer autoritären Kerns gewissermaßen ein 'sugarcoating' betreiben. Interessanterweise ist das, was ein Faschist wie Schmitt als Schwäche der Demokratien begriffen hat - ihre vermeintliche Inkonsequenz bei der Herrschaftsausübung - tatsächlich deren Stärke. Je subtiler Herrschaft ausgeübt wird, desto stabiler ist sie. Die Verblendung wird perfekt: 'Das System hat seine Schwächen, aber hey, es ist das beste das wir haben, außerdem sind ja letztlich 'wir' der Staat.' Von einer solchen Identifikation hat ein Hobbes nur träumen können.


    P.S.: Und natürlich sind 'Ideologen' immer nur die anderen, man selbst ist Anhänger von 'Vernunft' oder 'Humanität'.


    P.P.S. Als kleiner Exkurs: Im Grunde ist die Corona-Krise ein Lehrstück dafür, wo uns Wissenschafts- und Expertengläubigkeit letzten Endes hinführt, wenn wir angebliche Notwendigkeiten von einem politischen Diskurs entkoppeln: In die technokratische Diktatur, in der vielleicht irgendwann Computer darüber entscheiden, was das Beste für uns ist. Letzten Endes wäre das die technische Verwirklichung des Jakobinertums: Die totale Herrschaft der Vernunft, in der Menschen notfalls 'auch dazu gezwungen werden, frei zu sein'. Das wäre tatsächlich eine Form der Macht, die nicht von einem pessimistischen Menschenbild ausgeht.

  • Um noch etwas zu ergänzen:
    Den Zusammenhang zwischen einem pessimistischem Menschenbild und einer Neigung zu autoritären Positionen erfolgt meiner Ansicht nach bei Menschen, welche nichts aus der Geschichte gelernt haben.
    D.h., wenn diese Neigung besteht, dann sind sie der Meinung über das scheinbar hoffnungslose Volk regieren zu müssen. Doch da gibt es auch Menschen, in dessen Augen der Ursprung dieser Hilflosigkeit in der Herrschaft liegt.

    • Offizieller Beitrag

    wenn überhaupt, hoffe ich eher auf Technik, die die Welt verändert, als auf gesellschaftlichen Wandel durch Aufklärung der Bevölkerung oder sowas.

    Neue Erfindungen und Technologien verändern die Welt zweifellos in größerem Maße, als es in den letzten hundert Jahren irgendein Philosoph oder Guru zu Stande gebracht hat. Ob die Menschheit durch Technik aus ihrem Jammertal befreit werden kann und sich dadurch dann in eine positivere Richtung entwickelt, ist aber meines Erachtens noch lange nicht sicher.
    Natürlich gibt es diese Hoffnung, dass die Menschheit wie in Star Trek zu einer reiferen Spezies wird, wenn erstmal niemand mehr hungern muss (etwa durch die Erfindung eines Nahrungsmittel-Replikators), und dass die Allgegenwärtigkeit von Informationen und Wissen die Menschen klüger und verantwortungsbewusster macht.
    Dem gegenüber stehen aber auch jede Menge negative Zukunftsvisionen/Dystopien, in denen die Technik die Menschen nicht etwa klüger, sondern gefügig, abhängig und willenlos macht, durch immer ausgeklügeltere Überwachgunssysteme und neue Möglichkeiten der Realitätsflucht.
    Wer wird am Ende Recht behalten, Gene Roddenberry oder George Orwell? Es ist letztlich wieder vor allem eine Frage des Menschenbilds. Ich würde den Menschen nicht komplett abschreiben (man soll ja jedem eine zweite oder dritte Chance geben ;) ), aber so wie es aktuell aussieht, neige ich eher zu der Annahme, dass der Mensch zumindest durch die großen technologischen Entwicklungen in den letzten 30 Jahren nicht unbedingt intelligenter geworden ist, sonst hätten wir heute keine Leute wie Trump oder sonstige Despoten an der Spitze der Macht.
    Aber ist natürlich auch möglich, dass der langfristige Effekt der allgegenwärtigen Informationsfreiheit erst noch eintritt, wenn die alte Generation, die ohne all das aufgewachsen ist, mal weggestorben ist. Das vermag ich jetzt auch noch nicht mit letzter Sicherheit zu sagen... da ist meine Meinung wohl eher so eine Momentaufnahme.

    Im Grunde ist die Corona-Krise ein Lehrstück dafür, wo uns Wissenschafts- und Expertengläubigkeit letzten Endes hinführt, wenn wir angebliche Notwendigkeiten von einem politischen Diskurs entkoppeln: In die technokratische Diktatur, in der vielleicht irgendwann Computer darüber entscheiden, was das Beste für uns ist. Letzten Endes wäre das die technische Verwirklichung des Jakobinertums: Die totale Herrschaft der Vernunft, in der Menschen notfalls 'auch dazu gezwungen werden, frei zu sein'. Das wäre tatsächlich eine Form der Macht, die nicht von einem pessimistischen Menschenbild ausgeht.

    Wobei ich es mir (gerade beim Beispiel Corona) schwierig vorstelle, die eine Lösung zu finden, die "vernünftig" ist. Was würde der allmächtige Computer entscheiden? Ist es vernünftiger, jedem Menschen Einschränkungen aufzuerlegen, damit möglichst viele Leben gerettet werden können? Oder ist es vernünftiger, die Einschränkungen möglichst gering zu halten und einige Menschen sterben zu lassen, weil viele von denen ohnehin entbehrlich sind und auch einen Großteil ihres Lebens bereits hinter sich haben?
    Hängt letztlich wohl davon ab, mit was man den Computer vorher gefüttert hat... soll er sich bei seinen Entscheidungen vor allem darum kümmern, dass die Menschen glücklich sind und das allgemeine Zufriedenheitsgefühl in Umfragen möglichst hoch ist? Oder soll er sich in erster Linie darum kümmern, dass die Wirtschaft funktioniert und es wenig Arbeitslose gibt? Oder dass die Todeszahlen möglichst gering sind?
    Ich fürchte, zu vielen Streit-Fragen gibt es nicht die eine vernünftige Antwort, sondern es hängt eben stark davon ab, an was wir glauben und was wir als wichtig erachten. Freiheit oder Sicherheit?
    Und so ist es eben auch in der heutigen Gesellschaft... wenn man die Entscheidung, wie man mit Corona umgeht, nicht breit diskutiert, sondern letztlich die Meinungen der Virologen und Ärzte übernimmt. (die natürlich schon allein aufgrund ihres Jobs größtenteils vor allem das Interesse haben, möglichst viele Leben zu bewahren und alle Krankheiten auszumerzen, so schnell es geht)
    Also was bedeutet "Herrschaft der Vernunft" eigentlich? Und geht das überhaupt?

    • Offizieller Beitrag

    Jedenfalls würde ich den Fakt bestreiten, dass die Menschheit schlussendlich dumm ist. Vielleicht ist es doch das Produkt der gnadenlos erzwungenen Anpassung und Unterwerfung, sobald man in die staatlichen Bildungs- und Erziehungseinrichtungen deportiert wird. Zeitgleich wurden diese von den „bösen Herrschern” erschaffen, welchen es heutzutage dann doch eher um die Macht, das Geld und die Kontrolle geht.

    Ich denke, es ist eine Mischung aus beidem.
    Natürlich wird der Mensch von Kindesbeinen an konditioniert, geprägt und erzogen, damit er irgendwann den Anforderungen der Erwachsenenwelt entspricht. Manche Charaktereigenschaften, die in einem jeden Menschen angelegt sind, werden durch diese Prägung besonders gefördert... beispielsweise Disziplin, Ehrgeiz, eine gewisse Obrigkeitsgläubigkeit und auch Furcht vor dem sozialen Abstieg...
    Andere Eigenschaften, die ebenfalls in jedem Kind vorhanden sind, werden bei der heutigen Erziehung oft vernachlässigt... beispielsweise so Dinge wie Kreativität, Fantasie und die Fähigkeit, Freundschaft und Liebe zu geben und zu empfangen, etc.
    Das Ergebnis sind dann eben die Menschen, die wir heute haben. Und ich glaube schon, dass man aus vielen Menschen noch mehr rausholen könnte, wenn man sie auf eine andere Weise anleiten würde als so, wie es heute gemacht wird.
    Also kann man im Grunde sagen, ich habe doch ein positives Menschenbild, weil ich daran glaube, dass der Mensch zu mehr fähig ist.
    Aber andererseits ist er in gewisser Weise auch dumm, weil scheinbar nur wenige Menschen aus ihrer Prägung komplett ausbrechen können, während zu viele den Pfad, auf den sie einmal gebracht wurden, weiterlaufen bis zum bitteren Ende, ohne dazu in der Lage zu sein, ihn zu hinterfragen und die Mechanismen zu begreifen, durch die sie so geworden sind, wie sie sind. So gesehen ist mein Menschenbild dann wiederum eher negativ, weil ich den Menschen nicht per se für ein edles Wesen halte, sondern für ein leicht zu manipulierendes, unkritisches (und oft auch ziemlich doofes) Produkt seiner Prägung.

  • Wobei ich es mir (gerade beim Beispiel Corona) schwierig vorstelle, die eine Lösung zu finden, die "vernünftig" ist. Was würde der allmächtige Computer entscheiden? Ist es vernünftiger, jedem Menschen Einschränkungen aufzuerlegen, damit möglichst viele Leben gerettet werden können? Oder ist es vernünftiger, die Einschränkungen möglichst gering zu halten und einige Menschen sterben zu lassen, weil viele von denen ohnehin entbehrlich sind und auch einen Großteil ihres Lebens bereits hinter sich haben?Hängt letztlich wohl davon ab, mit was man den Computer vorher gefüttert hat... soll er sich bei seinen Entscheidungen vor allem darum kümmern, dass die Menschen glücklich sind und das allgemeine Zufriedenheitsgefühl in Umfragen möglichst hoch ist? Oder soll er sich in erster Linie darum kümmern, dass die Wirtschaft funktioniert und es wenig Arbeitslose gibt? Oder dass die Todeszahlen möglichst gering sind?
    Ich fürchte, zu vielen Streit-Fragen gibt es nicht die eine vernünftige Antwort, sondern es hängt eben stark davon ab, an was wir glauben und was wir als wichtig erachten. Freiheit oder Sicherheit?
    Und so ist es eben auch in der heutigen Gesellschaft... wenn man die Entscheidung, wie man mit Corona umgeht, nicht breit diskutiert, sondern letztlich die Meinungen der Virologen und Ärzte übernimmt. (die natürlich schon allein aufgrund ihres Jobs größtenteils vor allem das Interesse haben, möglichst viele Leben zu bewahren und alle Krankheiten auszumerzen, so schnell es geht)
    Also was bedeutet "Herrschaft der Vernunft" eigentlich? Und geht das überhaupt?


    Ist doch ganz leicht: Die Herrschaft der Vernunft ist die Herrschaft derjenigen, die sich für vernünftig halten :saint: Je nach historischer Situation ist das dann eben jemand wie Robespierre, Merkel oder Spahn. Die 'repräsentative Demokratie' benötigt eben erst ein, zwei Ausnahmezustände, um ihr wahres Gesicht ganz offen zu zeigen. Vorher bekommen es in der Regel nur diejenigen zu sehen, die als Staatsfeinde ausgemacht werden.
    Wenn wir bald Künstliche Intelligenzen haben, werden uns auch diese grundlegenden Entscheidungen abgenommen. Vorher müssten Computer eben noch mit den Grundannahmen gefüttert werden, die du ansprichst.

  • Ist doch klar, dass Herrschaftslegitimation in demokratischen Systemen so funktioniert, dass der Durchschnittsheini den Knüppel nur dann spürt, wenn's sein muss, und nicht ständig. Das wäre ja blödsinnig. Deswegen brauchen ja freiheitliche Gesellschaften, wie Chomsky ja schon herausgearbeitet hat, mehr und feingliedrigere Propaganda als repressive Gesellschaften ... weil die Gedanken von Leuten nämlich nicht so wichtig sind, wenn man die Mittel hat sie in Massen zusammenzuschlagen oder endgültig auszuknipsen. Wenn Leute tatsächlich am politischen Prozess durch Wahlen usw. beteiligt sind, ist es wichtig, sicherzustellen, dass sie richtig wählen bzw. durch die Wahlen die Kapitalinteressen der herrschenden Klasse nicht wesentlich beeinträchtigt werden.


    Grundsätzlich ist das Menschenbild im philosophischen Sinn hier aber zentral, weil die Frage ist, wie man selbst die Menschen so sieht. Leute, die eher ein Hobbes'sches Menschenbild haben, tendieren hat im Zweifelsfall eher zum Autoritismus als dazu, ihren Mitmenschen, die sie insgeheim oder offen verachten, zuzutrauen, selbstbestimmte, rationale Entscheidungen zu treffen.


    Und man arbeitet natürlich nicht in einem Gemeinwesen an Schlüsselstellen mit, das im Prinzip noch so wie der preußische Obrigkeitsstaat organisiert ist, wenn man nicht der Ansicht wäre, Menschen müssten überwacht und zu ihrem Glück gezwungen werden.


    Aber natürlich ist es großer Unterschied, ob 'alle Macht vom Volke ausgeht', Wahlen stattfinden, Ämter mit Zeitlimit versehen sind usw. als wenn man in einer klaren Monarchie oder Diktatur lebt, deren Staatsideologie auf dem Gottesgnadentum o.ä. basiert.


    P.P.S. Als kleiner Exkurs: Im Grunde ist die Corona-Krise ein Lehrstück dafür, wo uns Wissenschafts- und Expertengläubigkeit letzten Endes hinführt, wenn wir angebliche Notwendigkeiten von einem politischen Diskurs entkoppeln: In die technokratische Diktatur, in der vielleicht irgendwann Computer darüber entscheiden, was das Beste für uns ist. Letzten Endes wäre das die technische Verwirklichung des Jakobinertums: Die totale Herrschaft der Vernunft, in der Menschen notfalls 'auch dazu gezwungen werden, frei zu sein'. Das wäre tatsächlich eine Form der Macht, die nicht von einem pessimistischen Menschenbild ausgeht.

    Das ist doch in dem Fall gerade nicht der Fall, da es ja darum geht, eine Katastrophe zu verhindern. Die Dinge werden doch z.B. durch die Expertise vom Durchschnittsdödel verzerrt, der im Prinzip von der Kapitalfraktion verarscht wird. Ist doch in der Klimafrage dasselbe. Ist es ziemlich klar, was getan werden muss, um die Erwärmung zu verhindern, genau wie es klar ist, wie man 'ne Epidemie eindämmt. Das ganze wird nur verwaschen, wenn man verschiedene Gruppen mit verschiedenen Partikularinteressen unterschiedliche Prioritäten setzen.


    Und das ist immer ein politischer Diskurs, kein Expertendiskurs. Die Gefahr besteht darin, dass politische Ideologie als naturgegeben bzw. alternativlos verkauft wird und das auch geglaubt wird. Aber Viren (oder Asteroiden, die auf die Erde stürzen, oder Supervulkane, die ausbrechen) haben keinerlei politische Agenda.

  • " Ist es ziemlich klar, was getan werden muss, um die Erwärmung zu verhindern, genau wie es klar ist, wie man 'ne Epidemie eindämmt. Das ganze wird nur verwaschen, wenn man verschiedene Gruppen mit verschiedenen Partikularinteressen unterschiedliche Prioritäten setzen."


    Ich wüsste nicht, wo dies dem widersprechen sollte, was ich geschrieben habe. Wenn alles 'klar' ist und Partikularinteressen nicht mehr zählen, dann sind wir mitten angelangt in der Diktatur der 'Vernunft' bzw. der 'Vernünftigen'.

  • Trotz aller Kritik sind die heutigen westlichen Gesellschaftsformen die besten, die überhaupt funktionieren können.
    Da sich der Kapitalismus immer wieder sich neu erfunden hat und seine Fehler, wie durch Updates beheben tut.
    Dies war möglich durch den freien Meinungsaustausch und durch Forschung außerhalb von Ideologien. So sind viele Säulen der heutigen Gesellschaftsform im Laufe der Zeit gewachsen und haben sich gefestigt. Es hat alles mit dem Wirtschaftswunder angefangen, aufeinmal hatte man einen nie erreichten Wohlstand, doch dieser Wohlstand hat mit der Zeit zu anderen Problemen geführt, wie die massive Umweltverschmutzung und die Migrationsthematik, die in allen Gesellschaften der fortschrittlichen Länder das neue Problem was es zu lösen gilt ist. So hat der Kapitalismus die Möglichkeit für einen neuen Faschismus (Rechtspopulismus, AFD, Le Pen usw) in der Zukunft geschaffen und das ist die größte Gefahr die, die heutigen Gesellschaften im Inneren beschäftigen, weil es schonmal zu einer zivilisatorischen Katastrophe des Kapitalismus gekommen war und es immer dann der Fall ist, wenn der Motor des Systems nicht richtig funktioniert und die Wirtschaft stagniert und es zu Wirtschaftskrisen kommt.


    Das heutige System ist daher auch in dieser Thematik sehr vorsichtig, denn in unsicheren Zeiten kommt das triebhafte, oder wie es Staatstheoretiker und Philosoph Thomas Hobbes mit dem Wolf, den der Mensch in anderen Fremden Menschen sieht formuliert. Solange es aber vielen gut geht, Verhalten sich die meisten Menschen vernünftigt.


    Der Anarchismus hat sich in seiner praktischen Form mehr im Libertalismus und Liberalismus Wurzeln schlagen können und Ideen wurden in diesen Strömungen zu Entfaltung gebracht. Der linke Anarchismus wurde schon von Anfang an, vom Sozialismus und Kommunismus unterdrückt und hatte nicht die Möglichkeit sich in den Gesellschaften die neu Entstanden sind durchzusetzen, da diese Gesellschaften immer einen starken Staat hatten und es im Widerspruch mit anarchistischen Ansichten war. Der Kommunismus als politische Utopie ist gescheitert, weil der Kapitalismus mit seinem Luxus und Überfluss einfach die Menschen mehr angelockt hat, so mussten sozialistische Staaten ihren starken kontrollierenden Staat aufbauen, Mauern, Kontrolle usw, um Überhaupt lebensfähig zu sein, oder nicht seine ganze Bevölkerung durch Auswanderung zu verlieren. Gleichzeitig hatte der Kapitalismus, der immer auch viele andere Elemente von Staatsformen integriert und kein aggressiver wie in industrieller Zeit mehr ist, sich die Vorzüge von anderen Formen gesellschaftlichen Formen zu eigenen gemacht und soziale Sicherheiten geschaffen, die durch die Wirtschaft auch möglich waren zu finanzieren.


    Die heutige Gesellschaft ist aber auch von der Geschichte geprägt und der Konservatismus beeinflusst ebenfalls viel in der Gesellschaft, da dieser durch seine Geschichte und aus einem gewissen Wertekodex langsam aber entscheiden reagiert und den größten Einfluss auf die Gesellschaft hat, wie man z.B. in der Flüchtlingskrise sieht, spielt auch eine christliche Komponente eine Rolle und dann gleichzeitig noch der wirtschaftliche Aspekt, weil man auf Arbeitskräfte angewiesen ist, um den Motor des unendlichen Wachstums auf Hochtour zu fahren. Ich denke der Anarchismus lässt sich nur im kleinen gut gestalten, kontrolliert von einem Staat, der jedoch bei Einhaltung der Regeln nicht in die Verwaltung dieser Struktur sich einmischt, und ob es hier so eine Tradition, mag ich zu bezweifeln, vielleicht würde sowas aufgrund der Vergangenheit mehr in den USA gehen, oder in liberaleren Gesellschaften wie in den Niederlanden z.B., da würde so ein Konzept von der Tradition und Erfahrung der Demokratie auch leichter zu tragen sein und erfolgsversprechender sein.