Zivilcourage

  • @Anders: ich hab nun leider zwei Situationen, die ich hätte auf jeden Fall besser angehen sollen. Leider sind sie geschehen und eine Zeitmaschine gibt es nicht. Aber na ja, was mich tröstet ist, dass die Situationen sich innerhalb weniger Sekunden aufgelöst haben und niemand zu Schaden gekommen ist. Ärgert einen trotzdem im Nachhinein und zukünftig will man einfach besser handeln.


    Situation 1: Ich steig am Bahnhof aus einem Bus, sehe sofort einen jungen Mann sehr nah am Bahnsteigrand stehen - mit dem Rücken zu den Gleisen und Kopfhörern auf. Mein Blick richtet sich in die Ferne, aus der die Züge auf diesem Gleis kommen. Und es war ein Güterzug im Anmarsch. Sekunden später raste er schon durch den Bahnhof. Der junge Mann hat sich etwas erschreckt und hat sich gleich etwas von der Kante entfernt.
    Problem: Ich hätte irgendwie verbal und gestikulierend ihn darauf aufmerksam machen müssen, dass sich ein Zug nähert. Stattdessen stand ich wie angewurzelt vor dieser Situation.


    Situation 2: Gleicher Bahnhof. Will eine Treppe runter eine Unterführung durch zu meinem Gleis. Auf der Treppe oben bleib ich stehen, weil ich weiter unten zwei Menschen sehe, die einen Konflikt zu haben scheinen. Dabei wird einer gegen die Wand gedrückt. Sekunden später lässt der andere von dem einen ab und läuft die Treppen nach oben, an mir vorbei. Der andere, der gegen die Wand gedrückt wurde, geht die Unterführung unten weiter.
    Problem: Ich hätte denjenigen, der gegen die Wand gedrückt wurde und der in meine Richtung (Unterführung) ging, fragen sollen, ob alles ok ist. Stattdessen lief ich an ihm vorbei. Er machte zwar keinen sonderlich verletzten Eindruck, aber trotzdem hätte ich fragen MÜSSEN.
    Gedanken: Wer weiß, was da vorher war, dass es zu dieser Situation kam. Nach Raub oder so was sah es mir nicht aus. Der gegen-die-Wand-Drücker hatte jetzt keine Sachen in der Hand, als er an mir vorbeilief. Ich denke, die hatten sich vorher irgendwie in die Wolle bekommen. Aber das weiß man nicht. Lieber noch mal nachfragen -> hab ich verpasst.
    Noch was: Oben an der Treppe, wo ich stand, lag eine Gürteltasche. Ich hob sie in dieser Situation auf. Der Typ, der nach oben lief, nahm sie entgegen, als er an mir vorbeilief. Ich bin mir ziemlich sicher, dass diese ihm gehörte, da der andere ja in die andere Richtung ging und nicht nach dieser Gürteltasche schaute. Trotzdem, ich hätte sie nicht aufheben sollen.


    Wie du siehst, ich hab wohl mindestens drei Fehler in diesen zwei Situationen gemacht.

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  • Als Fehler würde ich deine Reaktionen nicht werten. Wenn der Junge am Gleis betrunken gewesen wäre, oder die zwei in der Unterführung sich fremd gewesen wären und es hätte nach Raubüberfall ausgesehen, dann hättest du wahrscheinlich anders reagiert.
    Du möchtest gerne auf alle aufpassen, stimmts?

  • Nein, ich denke, die meisten Menschen können auf sich selber aufpassen. Ich sehs so: was wäre, wenn der junge Mann sich durch irgendwelche Umstände unter die Räder begeben hätte? Das würde mich als Zeuge erster Reihe auf ewig verfolgen. Ich hatte die Chance, ihn zu warnen. Besoffen hätte er wahrscheinlich sich anders verhalten und die Situation wäre ganz anders gewesen, mit all den Menschen drumherum in ihr. Ach man.
    Bei der zweiten Situation hätte ich wahrscheinlich gehandelt, wäre es über die Sekunden hinaus gegangen. Das glaube ich, ja. So machte es echt nur den Eindruck, die zwei haben sich irgendwie gezofft und der eine wollte dem anderen mal zeigen, wer das Alphatier ist. :D
    Ach trotzdem. Man sollte schon ein bisschen seine Umgebung im Blick haben, um ggf. ne Gefahrensituation erkennen zu können, in der man helfen kann.

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  • Man sollte schon ein bisschen seine Umgebung im Blick haben, um ggf. ne Gefahrensituation erkennen zu können, in der man helfen kann.

    Dann solltest du mal einen Blick auch auf dich werfen. Nur wenn es dir gut geht, kannst du auch wirklich anderen helfen. Versuch nicht um jeden Preis altruistisch zu sein. Eine ausgewogene Balance zwischen Eigenliebe und Nächstenliebe ist vielleicht optimal. Mach dich nicht so kirre, weil du nicht alles das gemacht hast, was du vielleicht gerne hättest getan. Im Endeffekt ist ja alles gut gegangen. Bei erster Situation hättest du auch durch eine Reaktion alles verschlimmern können. Die Person hätte sich erschreckt und wäre vielleicht gerade wegen dir vom Zug erfasst worden. Wäre ja auch möglich. Situation 2. Es ist ja nicht wirklich was passiert und somit ist doch alles gut. Nein, du bist nicht in der Verantwortung da etwas zu tun. Zivilicourage ist zwar toll, aber sie ist keine absolute Pflicht. Vor allem nicht, wenn es dich belastet und du nicht immer genau vorher einschätzen kannst, wie du handeln solltest. Alleine, dass du dir darüber derart Gedanken machst, ehrt dich wirklich und damit liegst du bereits weit außerhalb des Durchschnitts ...Mach dir nicht immer soviele Gedanken Celdur. Aber ich kenne das nur all zu gut. Hab dich lieb, Celdur.

  • Bei erster Situation hättest du auch durch eine Reaktion alles verschlimmern können. Die Person hätte sich erschreckt und wäre vielleicht gerade wegen dir vom Zug erfasst worden.

    Daran habe ich auch gedacht. Dann wäre man wirklich richtig am Arsch. Gut, dass alles gut gelaufen ist.

    Nein, du bist nicht in der Verantwortung da etwas zu tun.

    So sah es wirklich nicht danach aus, als müsse man groß was tun. Wäre die Sache schlimmer abgelaufen, dann denke ich aber schon. Natürlich, wie du vorher sagtest, auch ein wenig auf sich schauen. Und sich nicht unnötig als Überheld selbst in große Gefahr begeben.


    Hätte, wäre, wenn.


    Ist halt wirklich alles situationsbedingt (individuell).

    Aber ich kenne das nur all zu gut.

    Siehst du. :beer:

  • 'Zivilcourage' ist weiter verbreitet als man gemeinhin annimmt. Das geht so weit, dass man auch als 'Täter' immer einkalkulieren muss, dass Dritte eingreifen.
    Es ist eine schwierige Abwägung in manchen Situationen. Ich habe mich bei der letzten Situation tatsächlich dabei ertappt, dass ich zunächst abgewogen habe, ob die Person, die gerade 'auf die Fresse bekommt' , es eventuell verdient hat bzw. ob hier eine Sache 'geregelt wird', die nicht mein Problem ist. Das Ganze war dann auch schnell vorbei. Rückblickend hätte ich wohl eingegriffen, aber grundsätzlich würde ich schon empfehlen, sich im Vorfeld über solche Sachen Gedanken zu machen.

  • sich im Vorfeld über solche Sachen Gedanken zu machen.

    Das stimmt. Schon im Vorfeld eine Art Schlachtplan zurechtlegen. Mit der Einstellung rausgehen, da zu helfen, wo Hilfe benötigt wird. Und wenns drauf ankommt, die richtige (innere) Einstellung mitbringen. Zum Glück stolpert man ja selten in solche Situationen, man muss ja nicht ständig auf Habachtstellung sein. Halt (vor)bereit(et) sein, wenns drauf ankommt.

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  • Meine Menschenliebe und Zivilcourage hat sich seit dem ich hier bin drastisch verringert ;)

    Ne, stimmt nicht, erst in letzter Zeit etwas.

    Ich muss mich nicht mehr überall einmischen, aber das tue ich eher um Kräfte und Nerven zu sparen.


    Vorhin hat ein Vater sein kleines Kind angebrüllt, bloss weil ein Auto nahte und das Kind auf der Strasse (verkehrsberuhigte Gegend) herumwackelte.

    Das Balg bekommt davon doch einen echten Dachschaden oder? Mit dem Brüller hätte man genauso gut ein Rudel Dobermänner zurückpfeifen können.


    Wahrscheinlich hatte der Vater ein Bier zu wenig zu Mittag bekommen und lässt seinen Frust am Kind aus.


    Früher hab ich immer meinen Mund aufgemacht, bei der kleinsten Kleinigkeit.

    Aber seitdem man ständig zum Ruhe bewahren aufgerufen wird, ist mir alles egal geworden. "Fck the World!"

  • War denn die Situation wenigstens etwas gefährlich, so dass man die Reaktion des Vaters vielleicht etwas nachvollziehen könnte (auch wenn man die Art und Weise nicht gutheißen muss)? Oder handelte es sich um Überfürsorge, die sich in übertriebenes Zurechtweisen ausgedrückt hat? Na ja, wie auch immer, überall einmischen muss man sich wirklich nicht, die ganze Welt kann man auch nicht retten. Aber son gewissen Idealismus bewahren auch angesichts der Schlechtigkeit der Welt, find ich gar nicht schlecht, Idealismus dahingehend dass man sich bei Missständen klar positioniert und ggf. handelt/etwas sagt.

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  • Ich fand sie nicht gefährlich und der Vater wirkte aber auch nicht besonders überfürsorglich (dem Kind gegenüber).

    Der psychische Schaden ist vorprogrammiert wenn so ein Erziehungsstil chronisch wird.

    Dazu hatte ich mich mit meiner Schwester schon in der Wolle.

    Da setzt halt jeder andere Masstäbe. Ich hatte beim Babysitten immer Glück, und hab aber auch das Vertrauen des Kindes immer herausgefordert.

    Im Endeffekt orientiert sich der Mensch zu stark am Umfeld, und will nicht unangenehm auffallen. Er hat kein Vertrauen in nichts und niemanden mehr.

    Der Autofahrer hat schliesslich selber Augen im Kopf und ein Gewissen.

    Das war dasselbe mit mir, als ich mich über das stundenlang schreiende Baby der Nachbarin aufgeregt habe.

    Die wusste schon was sie tut, und die Tochter hat es überlebt.

    Im Nachhinein hast du selbst gesehen, würde man vieles anders tun.

    Erfahrungen müssen wahrscheinlich bis zu einem gewissen Grad einfach gemacht werden, auf beiden Seiten.

    Es vermischt sich eben oft eine akute Situation mit Entscheidungen in der Konsequenz, die langfristg angewand zum Schema werden.

    Das finde ich nicht so gut. Vor allem nicht, wenn es darum geht, die eigenen Ängste aufs Kind zu übertragen.

    Der Vater hätte genausogut zum Kind laufen können, dann wäre der Autofahrer noch einmal aufmerksamer geworden, und hätte zum Beispiel die Situation entschärfen können, indem er das Kind hochnimmt und mit ihm lacht.

    Das Kind hätte die "Gefahr" nicht mitbekommen, und der Vater seinerseits wäre in echt aktiv geworden, und gleichzeitig hätte er eigene Unzulänglichkeiten in echte Kompetenz umwandeln können.

    Da wir uns aber allgemein drauf versteifen, was der andere über uns denken könnte, handeln wir nicht mehr natürlich oder sind total aus den Fugen geraten mit unserer Toleranz.