Eine Verteidigung des Tugendterrors

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    So neumodisch ist der Begriff nicht. Er geht zurück auf die Französische Revolution (1789 - 1799). Dort gab es eine Zeit (1793/94), die sogenannte "la Terreur", in der Frankreich von einem Diktator namens Robespierre regiert wurde. In dieser Zeit wurden die Ideale der Französischen Revolution zum Staatsziel, zur Tugend, erklärt. Die Macht der Kirche und des Adels wurde im Sinne der Aufklärung gebrochen, die Gerichte und die Verwaltung krass modernisiert und man versuchte, die Menschen (also, die Männer) rechtlich gleich zu stellen. Allerdings wurden ein paar Tausend Menschen hingerichtet, die als gefährlich und anti-revolutionär angesehen wurden. Die Guillotine wurde zum Symbol dieser Schreckensherrschaft. Als die Angst anderer Regierungsmitglieder vor Robespierre zu groß wurden, wurde dieser selbst geköpft.
    Beim kurzen googlen habe ich gesehen, dass eins von SPD-Sarrazins Büchern "Der neue Tugendterror" heißt.


    Aber Tugend-Terror? Was ist denn das für ein neumodisches Paradoxon?

    Sowas nennt man Oxymoron ;)
    Übrigens hieß der Apparat, der Robespierre seine diktatorische Macht verliehen hat, "Wohlfahrtsausschuss".



    Wenn ich den Mann in dem Video richtig verstanden habe, verteidigt er diese Diktatur, indem er sie für mehr oder weniger notwendig hält. So führt er an, dass die Jakobiner die Diktatur errichteten, weil das revolutionäre Frankreich zu der Zeit an jeder Grenze Krieg gegen die Monarchisten Europas führte (dieser Krieg hat nebenbei bemerkt Napoleon an die Macht gebracht). Und er verurteilt die Liberalen, weil sie lieber über Verbesserungen reden, statt sie einfach umzusetzen. Er sagt außerdem, dass Robespierre ehrlich und sich bewusst war, dass er viele Menschen tötet und "monstrosities" begeht, aber das eben nur, um die Ideale der Aufklärung durchsetzen zu können. Und heutzutage sind die Menschen unehrlich, sie wollen Krieg, aber ohne Krieg, also ohne das Töten von Menschen. Und sie wollen eine Revolution (ich vermute, er meint eine Veränderung zum Guten) ohne eine Revolution, also ohne, dass sich an den Umständen, die das Schlechte erst ermöglich, wirklich etwas ändert; bzw. ohne, dass Menschen bei der Revolution zu Schaden kommen.
    Das Ganze erinnert mich ein bisschen an den Kabarettisten Hagen Rether, der eine "Öko-Diktatur" gefordert haben soll.
    Es ist eine alte und schwierige Frage, wie weit die Guten gehen dürfen, um das Gute zu beschützen oder überhaupt erst zu ermöglichen. Im Grunde müsste man das bei jedem einzelnen Fall neu entscheiden. Aber das könnte den Fortschritt wiederum ausbremsen, besonders, wenn man alle fragen will. Und prinzipiell ist es gefährlich, einem Menschen Macht zu geben, denn normalerweise möchten diese Menschen diese Macht ausbauen und nicht wieder abgeben. Wie Bakunin schon sagte: "Setze den größten Anarchisten auf einen Thron und er wird innerhalb kürzester Zeit zum schlimmsten Tyrannen."

  • @Sammy: Danke für den interessanten Input! Ich war schon verwundert, dass Robespierre bzw. seine Philosophie scheinbar nicht jedem präsent sind. Dabei ist die französische Revolution ein hochinteressantes Studiengebiet, was gesellschaftliche Umwälzungen angeht.


    Von Robespierre stammen u.a. folgende Zitate, wobei Zizek konkret das zweite nennt:
    "Terror ist nichts anderes als sofortige, unnachsichtige und unbeugsame Gerechtigkeit; folglich ist er ein Ausfluß der Tugend."
    "Tugend, ohne sie ist der Terror verderblich; Terror, ohne ihn ist die Tugend machtlos."


    Natürlich ist Zizek auch ein Provokateur. Er ist kein Historiker, sondern Ideologie-Kritiker mit radikalem linken Anspruch. Ich denke, an Robespierre fasziniert ihn das (verklärte?) Sinnbild des unbestechlichen Politikers und des asketischen Revolutionärs - etwas, das im krassen Gegensatz zu unseren heutigen Politikertypen steht.
    Zizek spricht vom "Zero-level of jacobinism", dem Nullpunkt, der passiert werden muss, um die Grundlagen einer neuen demokratischen Gesellschaft zu errichten. Gleichzeitig lässt sich dies natürlich auch als Herrschaftskritik verstehen: Hinter jedem System, egal wie demokratisch es sich auch darstellt, steht bzw muss die nackte Gewalt als Garant dafür stehen, sich im äußersten Fall gegen die Kräfte zu verteidigen, die seine Existenz bedrohen. Zizek legt in diesem Sinne den Blick auf den dunklen Untergrund frei, auf dem unsere modernen Gesellschaften fußen - etwas, das sehr gerne verdrängt wird.
    Eine andere interessante Formulierung: "liberal" bzw "cynical wisdom". Man spricht gerne von Freiheit, Gleichheit, Demokratie, Rechtsstaatlichkeit etc., ist sich aber insgeheim bewusst, dass dies nicht wirklich funktioniert - oder vielmehr, dass man es im Grunde überhaupt nicht will. Was dann tatsächlich passiert, ist Klientel-Politik.
    Robespierre war ein Anhänger Rousseaus, dessen Demokratie-Bild konträr zu diesem unseren Verständnis eines Wettstreits der Interessen ist.


    Wenn ein Sarrazin vom "neuen Tugendterror" spricht, meint er natürlich das imaginierte linke Meinungskartell, dass es Leuten wie ihm angeblich erschwert, seine Thesen unters Volk zu bringen. Ich habe ja im anderen Thread gesagt: Liefern wir den Rechten das, was sie bestellen. Letzten Endes ist dies eine Frage, die liberale "Gutmenschen" gerne verdrängen: Wann ist der "zero-level of jacobinism" wieder erreicht, wann ist die Zeit der gesitteten Debatten vorbei?

    • Offizieller Beitrag

    @Lonewolf: Danke, dass du das restliche Video noch erklärt hast, jetzt verstehe ich es auch besser ;)


    Zitat von Lonewolf

    Dabei ist die französische Revolution ein hochinteressantes Studiengebiet, was gesellschaftliche Umwälzungen angeht.


    Das finde ich auch. Ähnlich wie die Hochphase der Römischen Republik. Der römische Historiker Polybios (2. Jhd. v. Chr.) meinte zum Beispiel, dass die Republik deswegen so stabil ist, weil sie die besten Eigenschaften der drei damals bekannten Regierungsformen enthält: Monarchie/Tyrannis, Aristokratie/Oligarchie und Demokratie/Ochlokratie (das erste Wort steht jeweils für die gute Variante des Begriffs; also eine Tyrannis ist eine schlechte Form der Monarchie etc.). Ich finde, man kann am Beispiel Römische Republik sehen, wie wichtig die Anpassungsfähigkeit für eine Gesellschaft ist. Wenn Rom eine starke Führung brauchte, wurde sie für kurze Zeit zur Monarchie, ansonsten war sie eine mit Checks & Balances (s. auch USA) ausgewogene Mischung aus Aristokratie und Demokratie.
    Oder die Weimarer Republik: Hier kann man sehen, wie wichtig der Einfluß der Wirtschaft auf eine Gesellschaft ist und was passiert, wenn der Staat bei der Versorgung der Bevölkerung versagt und seine Feinde unterschätzt; "In zwei Monaten haben wir Hitler in die Ecke gedrückt, dass er quietscht!", Franz von Papen.
    Bei der Französischen Revolution ist interessant, dass sie quasi im Schnelldurchlauf verschiedene Regierungsformen erfahren und innerhalb von kurzer Zeit eine massive gesellschaftliche Modernisierung vollführt hat. Geendet hats letztendlich, wie erwähnt, mit Kaiser Napoleon, der so lange beliebt war, wie er Kriege gewann. Aber selbst der konnte viele Verbesserungen nicht einfach zurück nehmen und hat sogar versucht, sie auf die Nachbarländer zu übertragen: Wikipedia: Königreich Westphalen.
    Also, wer sich für Politik interessiert, hat hier schon mal drei Themen, mit denen er sich ausführlich beschäftigen kann :D



    Zitat von daryus

    Und viele deiner Infos waren tatsächlich neu für mich: Hatte sie wahrscheinlich verschlafen...


    Das war eigentlich nicht mal die Spitze des Eisbergs, sondern nur ein kleines Kapitel aus den 10 Jahren. Man hat, um nur eine handvoll Stichworte zu erwähnen, zum Beispiel einen an der Vernunft ausgerichteten Kalender eingeführt. Man wollte sich nicht mehr an diesem religiösen "nach Christus" orientieren, sondern 1789 war das Jahr I der Revolution. Und statt diesen komischen ungeraden 7 Tagen in einer Woche gab es eine 10-tägige Dekade. Blöderweise gab es aber weiterhin nur einen Tag pro Woche frei und die vielen religiösen Feiertage wurden auch noch beinahe ersatzlos gestrichen. Drei Dekaden ergaben jedenfalls einen Monat von 30 Tagen und am Ende des Jahres gab es halt noch ein paar Zusatztage. Ähnlich wie es heute noch unsere Banken machen. Und die Monate hießen halt jetzt Weinlese-Monat und Nebel-Monat, je nach Wetter.
    Statt dem verpönten Christentum mit seinem schwachen Beweismaterial wurde die Vernunft und die Wissenschaft glorifiziert. Für das Spirituelle hat man versucht, den Menschen den "Kult des Höchstens Wesens" schmackhaft zu machen. Quasi Gott ohne Jesus und mit Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit. War aber nach Robespierre nicht mehr so populär.
    Die Giullotine selbst war ein reines Produkt der Vernunft. Die Antwort eines Arztes auf die Frage, wie man Menschen möglichst schnell und schmerzfrei tötet. Bei einer handelsüblichen Kopfabtrennung mit Schwert (Adel) oder Axt (Nicht-Adel) musste der Henker ja nur ein bisschen abrutschen und schon gab es eine Sauerei. Selbst der verhasste und gestürzte König Louis XVI. wurde rechtlich zum gleichwertigen Bürger erklärt und ohne Folter einfach einen Kopf kürzer gemacht.
    Diese Glorifizierung der Vernunft hat letztendlich auch zur Deutschen Romantik geführt. Da haben sich die Menschen gedacht: "Wenn es zu viel Vernunft gibt, kommen wir also zur Giullotine und Angst-Herrschaft. Dann konzentrieren wir uns lieber auf unser Seelenleben, unsere Empfindungen, Übersinnliches, Spontanität etc." Deutsche Romantik also als Gegenbewegung zur aufklärerischen, radikalen Vernunft. Darum kommt dieser ganze Eso-Mist wie aus der Hand lesen, Glaskugel gucken und Geisterhäuser auch aus dem 19. Jahrhundert.


    Ich kann verstehen, dass man sowas im Unterricht verschläft. Die Lehrer haben zu wenig Zeit, um solche interessanten Details und Zusammenhänge zu erklären und den Schülern wird beigebracht, nur genug Stoff für die Klausur zu lernen. Weil was zählt, sind nur die Noten. Hier in Hessen ist ja auch noch so, dass Geschichte und Politik meistens ein Fach ist ("Gesellschaftslehre"), also für das Übertragen von historischen Prozessen und Lehren auf unsere Zeit bleibt gar keine Gelegenheit.